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So finster die Nacht

So finster die Nacht

Titel: So finster die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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hatte. Seine letzten Worte zu ihr hingen wie ein Echo in seinem Kopf. Habe ich das wirklich gesagt? Er fuhr herum und eilte zur Tür.
    »Ich muss …«
    Morgan nickte. »Trödel nicht. Schöne Grüße von mir.«
    Lacke stürzte die Treppen so schnell hinunter, wie seine zittrigen Beine ihn zu tragen vermochten. Die gesprenkelten Treppenstufen waren ein Flimmern vor seinen Augen, und das Geländer glitt so rasch durch seine Hand, dass sie sich an der Reibungshitze verbrannte. Er stolperte auf einem Treppenabsatz, fiel hin und stieß sich mit voller Wucht den Ellbogen. Der Arm wurde ganz heiß und war wie gelähmt. Er rappelte sich wieder auf und stolperte weiter die Treppen hinab. Er eilte zu Hilfe, um ein Leben zu retten. Sein eigenes.
     
    Virginia entfernte sich von den Hochhäusern, ging in den Park, drehte sich nicht um.
    Sie weinte schluchzend, eilte im Laufschritt fort, als wollte sie vor ihren Tränen davonrennen. Doch die Tränen verfolgten sie, drängten sich in ihre Augen und liefen tropfend die Wangen herab. Ihre Absätze durchstießen den Schnee, klackerten auf dem Asphalt des Parkwegs, und sie schlug die Arme um sich, umarmte sich selbst.
    Weit und breit war kein Mensch zu sehen, sodass sie den Tränen freien Lauf ließ, während sie heimwärts ging, die Arme gegen den Bauch presste; der Schmerz darin war wie ein boshafter Fötus.
    Lass einen Menschen zu dir herein und er tut dir weh.
    Sie hatte ihre Gründe, warum sie sich nur auf kurze Beziehungen einließ. Lass niemanden herein. Von innen heraus haben sie ganz andere Möglichkeiten, einen zu verletzen. Tröste dich selbst. Mit der Angst kann man leben, solange sie nur einem selber gilt. Solange es keine Hoffnung gibt.
    Aber sie hatte Hoffnungen in Lacke gesetzt, gehofft, dass zwischen ihnen langsam etwas wachsen würde. Und sie schließlich. Eines Tages. Was? Er nahm ihr Essen und ihre Wärme, aber im Grunde bedeutete sie ihm nichts.
    Sie ging geduckt den Parkweg hinab, kauerte sich über ihrer Trauer zusammen. Ihr Rücken krümmte sich, und es kam ihr vor, als säße dort ein Dämon, der ihr schreckliche Dinge ins Ohr flüsterte.
    Nie mehr. Nichts.
    Als sie gerade anfing, sich vorzustellen, wie dieser Dämon aussah, stürzte er sich auf sie.
    Ein großes Gewicht landete auf ihrem Rücken, und sie fiel hilflos zur Seite. Ihre Wange schlug in den Schnee, und der Film aus Tränen verwandelte sich in Eis. Das Gewicht aber blieb.
    Einen Moment lang glaubte sie tatsächlich, es wäre der Trauerdämon, der feste Form angenommen und sich auf sie geworfen hatte. Dann aber spürte sie den stechenden Schmerz am Hals, als scharfe Zähne die Haut durchbohrten. Es gelang ihr, wieder auf die Beine zu kommen, und sie drehte sich und versuchte loszuwerden, was auf ihrem Rücken saß.
    Da war etwas, das ihr in den Nacken, in den Hals biss, und ein Blutrinnsal lief ihr zwischen die Brüste. Sie schrie mit aller Macht und versuchte das Tier auf ihrem Rücken abzuschütteln, schrie immer weiter, während sie erneut in den Schnee fiel.
    Bis sich etwas Hartes auf ihren Mund legte. Eine Hand.
    Auf ihrer Wange lagen Krallen, die sich in das weiche Fleisch gruben … immer tiefer, bis sie den Backenknochen erreichten.
    Die Zähne mahlten nicht mehr, und sie hörte ein Geräusch, als würde jemand mit einem Strohhalm die letzten Tropfen aus einem Glas saugen. Flüssigkeit lief ihr übers Auge, und sie wusste nicht, ob es Tränen waren oder Blut.
     
    Als Lacke aus dem Hochhaus trat, war Virginia kaum mehr als eine dunkle, schemenhafte Gestalt, die sich auf dem Weg durch den Park Richtung Arvid Mörnes Väg bewegte. Nach dem Gewaltmarsch durch das Treppenhaus spürte er Stiche in der Brust, und die Schmerzen im Ellbogen strahlten pulsierend bis in die Schulter aus. Trotzdem lief er, lief, so schnell er konnte. Sein Kopf wurde durch die frische Luft und die panische Angst, Virginia zu verlieren, allmählich klarer.
    Als er zu der Biegung des Parkwegs gelangte, an der »Jockes Weg«, wie er ihn inzwischen nannte, auf »Virginias Weg« stieß, blieb er stehen und sog so gut er konnte Luft in seine Lunge, um ihren Namen zu rufen. Sie ging nur fünfzig Meter vor ihm unter den Bäumen.
    Als er gerade zu seinem Ruf ansetzen wollte, sah er, wie ein Schatten aus dem Baum über Virginia herabfiel und auf ihr landete, sodass sie umfiel. Aus seinem Schrei wurde nur ein Stöhnen, und er lief wieder auf sie zu. Er wollte rufen, hatte aber nicht genug Luft, um gleichzeitig zu laufen und zu

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