So finster die Nacht
schreien.
Er lief.
Vor ihm stand Virginia mit einem großen Klumpen auf dem Rücken wieder auf, fuhr herum wie ein wahnsinniger Buckliger und fiel erneut hin.
Er hatte keinen Plan, sein Kopf war leer. Ein einziger Gedanke trieb ihn an: Virginia zu erreichen und das Ding von ihrem Rücken zu entfernen. Sie lag am Wegrand im Schnee, während die schwarze Masse auf ihr umherkroch.
Er erreichte Virginia und legte alles, was er noch an Kraft aufbieten konnte, in einen Tritt in das Schwarze. Sein Fuß traf etwas Hartes, und er hörte ein scharfes Knacken wie von brechendem Eis. Das Schwarze fiel von Virginias Rücken und landete neben ihr im Schnee.
Virginia lag still, der Schnee war voller dunkler Flecken. Das Schwarze setzte sich auf.
Ein Kind.
Lacke stand da und schaute in das denkbar liebreizendste Kindergesicht, umrahmt von einem Schleier schwarzer Haare. Ein Paar riesiger Augen begegnete Lackes Blick.
Das Kind stellte sich wie eine Katze auf alle viere, war bereit zum Sprung. Sein Gesicht veränderte sich, als es die Lippen bleckte und Lacke die Reihen scharfer Zähne im Dunkeln aufblitzen sah.
Einige keuchende Atemzüge verstrichen so. Das Kind blieb auf allen vieren, und Lacke sah, dass seine Finger Krallen waren, die sich deutlich vom Schnee absetzten.
Dann strich eine schmerzverzerrte Grimasse über das Gesicht des Kindes, und es richtete sich auf und lief mit schnellen, langen Schritten Richtung Schule. Wenige Sekunden später tauchte es in die Schatten ein und war verschwunden.
Lacke blieb zurück und blinzelte Schweiß fort, der ihm in die Augen lief. Dann warf er sich neben Virginia auf die Erde. Er sah die Wunde. Der ganze Nacken war aufgerissen, schwarze Striemen liefen zum Haaransatz hinauf, den Rücken hinab. Er riss sich die Jacke vom Leib, zog den Pullover aus, den er darunter trug, und zerknüllte den Ärmel zu einem Ball, den er auf die Wunde presste.
»Virginia! Virginia! Liebe, geliebte …«
Endlich brachte er die Worte über die Lippen.
SAMSTAG, 7. NOVEMBER
Unterwegs zu Papa. Jede Biegung der Straße war ihm vertraut; er war diese Strecke schon … wie oft gefahren? Alleine vielleicht nur zehn oder zwölf Mal, aber zusammen mit Mama mindestens weitere dreißig Mal. Mama und Papa hatten sich getrennt, als er vier war, aber Mama und Oskar waren an Wochenenden und Feiertagen weiterhin hinausgefahren.
In den letzten drei Jahren hatte er schließlich alleine den Bus nehmen dürfen. Diesmal hatte Mama ihn nicht einmal mehr bis zur Haltestelle Technische Hochschule begleitet, von wo die Busse abgingen. Er war jetzt ein großer Junge; hatte ein eigenes Fahrkartenheft für die U-Bahn im Portmonee.
Eigentlich hatte er das Portmonee nur, damit er das Fahrkartenheft nicht verlor, aber heute lagen darin außerdem noch zwanzig Kronen für Süßigkeiten und Ähnliches sowie die Zettel von Eli.
Oskar knibbelte an dem Pflaster im Handteller. Er wollte sie nicht mehr treffen. Sie war unheimlich. Was im Keller passiert war, als –
Sie zeigte ihr wahres Gesicht.
– wäre da etwas in ihr, was … das Grauen war. All das, wovor man sich stets in Acht nehmen sollte. Große Höhen, Feuer, Glas im Gras, Schlangen. All das, wovor Mama ihn mit aller Macht beschützen wollte.
Vielleicht hatte er deshalb nicht gewollt, dass Eli und Mama sich begegneten. Mama hätte das Furchtbare erkannt und ihm verboten, sich in seiner Nähe aufzuhalten. In Elis Nähe.
Der Bus verließ die Autobahn und nahm die Landstraße Richtung Spillersboda. Es war der einzige Bus, der nach Rådmansö hinausging, weshalb er kreuz und quer fahren musste, um möglichst viele Dörfer abzuklappern. Der Bus passierte die Hügellandschaft aus aufgestapelten Brettern am Sägewerk von Spillersboda, fuhr eine scharfe Kurve und rutschte beinahe den Hang zum Bootsanleger hinunter.
Er hatte am Freitagabend nicht auf Eli gewartet.
Stattdessen hatte er sich seinen Snowracer genommen und war losgezogen, um auf dem Geisterhang alleine Schlitten zu fahren. Mama hatte protestiert, weil er tagsüber wegen einer Erkältung nicht in die Schule gegangen war, aber er hatte erklärt, er fühle sich schon viel besser.
Den Snowracer auf dem Rücken, ging er durch den Chinapark. Der Geisterhang begann etwa hundert Meter hinter den letzten Parklaternen, hundert Meter dunklen Waldes. Schnee knirschte unter seinen Füßen. Ein saugendes Säuseln aus dem Inneren des Waldes, wie von Atemzügen. Mondlicht sickerte herab, und die Erde zwischen den Bäumen
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