So finster, so kalt
für die vermeintliche und vielzitierte wahre Liebe würde sie nicht ihre Seele verpfänden. Aus dieser persönlichen Perspektive betrachtet, waren einige Figuren in Märchen unglaublich dämlich und hatten sich auf verdammt schlechte Handel eingelassen, wie sie fand.
Sie ließ die zerstocherten Kuchenstücke stehen, trank den Kaffee aus und zahlte. An der Hauptstraße fand sie ein Taxi und ließ sich nach Steinberg bringen. Kurz überlegte sie, Jakob anzurufen, doch ihr Smartphone hatte ihr die Entscheidung bereits abgenommen: Der Akku war endgültig leer. Wie immer, wenn man dieses Gerät wirklich einmal brauchte.
*
Zurück in Steinberg, lag der Marktplatz verlassen da, und die Türen des Gemeindehauses waren geschlossen. Die Helfer waren sicher noch unterwegs oder hatten sich auf dem Dreherhof getroffen. Im Pfarramt brannte Licht, doch im Grunde hatte Merle keine Lust auf Gesellschaft. Sie wollte nur noch zu Omis Häuschen, sich die Decke über den Kopf ziehen und sich geborgen fühlen. Das Haus war der letzte Familienangehörige, der ihr noch geblieben war. Es hatte schon immer mit seinen Bewohnern gelebt, geatmet, auf sie achtgegeben. Es hatte sie und jeden ihrer Familie geprägt – und ein Teil eines jeden von ihnen würde für immer in dem Haus weiterleben. Nirgends würde sie den Menschen näher sein, die sie in diesem Augenblick am schmerzlichsten vermisste.
Sie bat den Taxifahrer, sie den Hügel hinaufzufahren. Doch der weigerte sich, als er den matschigen Waldweg sah, und setzte sie am Dorfrand ab. Unschlüssig schaute Merle sich um. Sollte sie in der Nacht allein durch den Wald laufen? Kurz erwog sie, in der Wohnung ihres Vaters zu übernachten. Aber allein die Vorstellung, sich den Erinnerungen an ihren Vater mutterseelenallein zu stellen, schnürte ihr die Kehle zu. Abgesehen davon hatte Björn den Schlüssel, und sie wusste nicht, wo er sich aufhielt.
Langsam trottete sie in Richtung Schranke. Einer ihrer letzten Alpträume fiel ihr ein und diese Stimme, die sagte:
Geh nicht in den Wald …
Trotzig ballte sie die Fäuste in den Jackentaschen und reckte das Kinn vor. Was hatte sie noch groß zu verlieren? Sie war zeit ihres Lebens durch diesen Wald gegangen. Dieses vermaledeite Reh würde sie nicht davon abhalten. Sie würde auf dem Weg bleiben. Noch so etwas Verrücktes, was man doch im echten Leben niemals tat: vom Weg abgehen, wenn man damit rechnete, dass das Böse irgendwo lauerte.
Merle holte ein letztes Mal tief Luft und lief los.
Es kam ihr dunkler vor als sonst.
Das war sicherlich Einbildung. Sie war hier schon im Winter bei Regen gelaufen, da musste es düsterer gewesen sein.
Sie summte ein Lied, das sie im Taxi im Radio gehört hatte. Ihre Stimme verlor sich kläglich zwischen den hohen Baumwipfeln, und sie verstummte wieder.
Nur noch zehn Minuten.
Sie schritt etwas beherzter aus und erklärte sich immer und immer wieder, dass nichts passieren würde. Sie war kein Kind, sondern eine erwachsene Frau. Greta wollte Kinder. Sie hatte Luke getötet und nicht sie, Merle. Gleichzeitig wurde sie den Gedanken nicht los, dass ihr Vater ein erwachsener Mann gewesen war. Aber vielleicht war ihre Vermutung mit ihrem Vater und dem Reh nur ein Hirngespinst, und er war einfach vom Heimflug übermüdet die Böschung hinabgefahren.
Auf einmal glaubte sie, Schatten unter den Bäumen huschen zu sehen. Sie lief etwas schneller. Sie konnte bereits die Holzbox als dunklen rechteckigen Schatten abseits des Weges erkennen. Der Parkplatz war bis auf ihr eigenes Auto leer.
Merle erreichte die Kiste und wollte auf den Pfad abbiegen. Er kam ihr zugewachsener vor als üblich.
Dann sah sie den Wolf. Er stand oberhalb von ihr auf dem Weg. Sie schluchzte laut auf. Es klang fremd in ihren Ohren.
Bernsteinaugen glommen in der Dunkelheit. Das Tier bewegte sich mit langsamen und geschmeidigen Bewegungen auf sie zu. Die Muskeln unter dem grauen Fell spannten sich. Wie in ihrem Traum …
»Jakob?«, rief sie zaghaft. Der Wolf schüttelte den Kopf. Schaum spritzte von seinen Lefzen. Immerhin kein Blut.
Merle überlegte nicht länger. Dass ein Wolf normalerweise nicht durch den Hochschwarzwald lief, war ihr vollkommen egal. Dass es ein sehr großer und sehr beeindruckender Wolf war, kümmerte sie ebenfalls nicht. Sie rannte los, stürzte sich in den Seitenpfad. Zweige peitschten ihr ins Gesicht und streckten sich wie Finger nach ihr aus. Ihr Knöchel schrammte an einer Wurzel vorbei. Sie preschte weiter. Nur
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