So finster, so kalt
nicht umdrehen.
Sie sah kaum etwas und verließ sich darauf, dass ihr Instinkt den vertrauten Weg finden würde. Hinter sich glaubte sie, das Tier durch das Unterholz brechen zu hören. Aber bei dem Lärm, den sie selbst veranstaltete, war sie nicht sicher. Äste splitterten unter ihren Tritten, und im Vorbeilaufen riss sie Blätter von den Büschen. Vor allem hörte sie ihre keuchenden Atemzüge. Ihr Herzschlag dröhnte in ihren Ohren. Eigentlich war sie schon außer Atem gewesen, bevor sie die Kreuzung erreicht hatte.
Lauf, Merle, lauf. Denk nicht nach. Lauf!,
feuerte sie sich stumm an.
Der Pfad war tückisch. Sie duckte sich unter dickeren Ästen, sprang über spitze Wurzeln, drohte immer wieder zu stürzen und hielt sich doch irgendwie auf den Beinen. Die Panik im Nacken trieb sie unbarmherzig voran.
Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie auf die Lichtung stolperte. Wenn der Wolf ebenfalls den Waldrand erreicht hatte, war sie jetzt verloren. Auf dem freien Gelände war er ihr haushoch überlegen.
Der Gedanke verlieh ihr Flügel. Sie raste über das Gras auf die Haustür zu. Sie war verschlossen! Hatte sich jetzt auch ihr Haus gegen sie verschworen?
»Bitte! Du kannst mich jetzt nicht im Stich lassen! Lass mich rein!« Verzweifelt rüttelte sie an der Klinke. Prompt schwang die Tür auf. Sie war nur angelehnt gewesen.
Hinter ihr raschelte es.
Merle schlüpfte in den Flur, drückte die Haustür zu und lehnte sich dagegen. Einige Sekunden konzentrierte sie sich ausschließlich darauf, ihren rasselnden Atem zu beruhigen. Ihr Brustkorb schmerzte, und sie hatte Bauchkrämpfe. In ihrer Jacke steckten abgerissene Dornen. Sie schüttelte ihr Haar aus, und Blätter und Zweige rieselten zu Boden. Der Kratzer am Knöchel brannte. Dieses Mal hatte sie sich wirklich verletzt.
Wenigstens war sie in Sicherheit. Immerhin hatte sie sich von der Stelle bewegen können und ihr Ziel erreicht. Es war nicht so gewesen wie in ihren Träumen, in denen sie nicht von der Stelle gekommen war. Trotzdem war es schlimmer als jeder Alptraum.
Mit schweren Schritten betrat sie die Stube, stellte sich an das Fenster.
Sie traute ihren Augen nicht. Da stand Hans und winkte. Ihr Freund aus Kindertagen, ein geisterhafter Junge. Keine Spur von dem Wolf.
Merle lief zurück zur Haustür und lugte vorsichtig hinaus. Zora und Jorinde kamen aus Richtung der Scheune. Ganz entspannt trabten sie an der Hauswand entlang und verschwanden in einer Nische, um sich ihren Katzenangelegenheiten zu widmen.
Merle nahm das als gutes Zeichen. Sie öffnete die Tür ein Stück weiter. Hans rührte sich nicht von der Stelle.
Sie nahm allen Mut zusammen und rief: »Hans! Verstehst du mich?«
Der kleine Junge nickte eifrig und bewegte den Mund.
»Ich kann dich nicht hören!«
Er sagte wieder etwas, doch um Merle herum ertönten nur die üblichen Nachtgeräusche. Sie stöhnte leise. Wie viel einfacher die Welt als Kind gewesen war! Früher hatten sie miteinander gesprochen, daran erinnerte sie sich ganz genau. Jetzt überstieg es trotz allem ihren Verstand, mit einem Geist zu sprechen …
Sie war einen Moment unaufmerksam. Als sie aufschaute, blieb ihr das Herz stehen. Hans war verschwunden. Stattdessen stand der Wolf dort. Er drehte sich aufgeregt im Kreis, eher wie ein Hund, sprang unter die Bäume und kam sofort zurück.
Geh nicht in den Wald …
Unsinn! Merle ballte die Fäuste. Ihre Träume hatten nichts damit zu tun! Es waren Erinnerungen gewesen, hervorgerufen durch beruflichen Stress und vielleicht durch die Begegnung mit Jakob und seinem sprechenden Namen. Sie durfte sich davon jetzt nicht beeindrucken lassen. Hans wollte ihr etwas mitteilen. Wenn sie ihm nicht vertraute, wem dann?
»Warte!«, rief sie ihm zu, lief zurück ins Haus und schnappte sich die Taschenlampe von der Anrichte.
Die Haustür ließ sie offen stehen. »Wehe, du lässt mich gleich nicht sofort rein«, drohte sie dem Haus mit erhobenem Zeigefinger. Dann folgte sie Hans, dem Wolf, in den Wald.
Neunzehn
Drei
J akob stand immer noch am Rande der Lichtung. Als sich lange Zeit nichts rührte und niemand zu sehen war, wich seine Panik latenter Beunruhigung. Endlich gelang es ihm, seine Lähmung abzuschütteln. Er musste Hilfe holen. Ihm war völlig klar, dass er sich damit wieder verdächtig machte. Er, der Fremde, hatte ganz
zufällig
die vermissten Mädchen entdeckt und führte die Helfer nun an diesen Ort, ja sicher …
Es war ihm egal.
Er tastete nach seinem Handy, bis ihm
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