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So finster, so kalt

So finster, so kalt

Titel: So finster, so kalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Menschig
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einfiel, dass er es in seinem Zimmer auf dem Nachttisch zum Laden angeschlossen und liegen gelassen hatte. So wie er auch sonst nichts Nützliches eingesteckt hatte. Schließlich hatte er sich nur kurz umsehen und nicht stundenlang durch den Wald laufen wollen. Wirklich schlau.
    Rasch schaute er sich um und staunte, dass es inzwischen stockfinster geworden war. Nur aus der Krone des Baumes auf der Lichtung leuchtete ein vager goldener Schein. Ganz so, als wolle sein Erschaffer die Aufmerksamkeit auf ihn lenken. Jakob schnaubte leise. Ein gewisser Drang nach Selbstdarstellung schien allen Bösewichten anzuhaften, ob sie nun in Märchen, amerikanischen Filmen oder der Realität auftauchten.
    »Realität?«, murmelte er ungläubig. War er tatsächlich bereit zu akzeptieren, dass er das alles wirklich erlebte? Er kniff sich in den Unterarm. Der Schmerz fühlte sich unangenehm echt an und brachte ihn wieder zu der Frage zurück, was er tun sollte.
    Vielleicht gelang es ihm wenigstens, die Mädchen zu befreien? Seit er hier stand, hatte er nichts von einer Anwesenheit des Entführers bemerkt. Dieses Wesen, das eine weibliche Gestalt angenommen hatte und aus irgendwelchen Untiefen vergangener Zeiten heraufbeschworen worden war. So musste es doch gewesen sein, oder?
    Er würde sich das genauer ansehen, sobald er wieder in seinem Büro in Freiburg war. Jetzt gab es Wichtigeres. Schritt für Schritt betrat er die Lichtung, die unnatürlich rund war und wie künstlich angelegt wirkte. Es waren nur etwas mehr als zehn Meter bis zu dem Baum. Doch als Jakob ohne Zwischenfälle an seinem Stamm angelangt war, merkte er sofort, dass er ohne fremde Hilfe nicht weiterkam.
    Die drei Mädchen klebten an der Rinde direkt unter der Baumkrone. Mit unendlicher Erleichterung bestätigte er sich, was er schon vom Waldrand aus zu erkennen gehofft hatte: Sie schliefen oder waren ohnmächtig, aber sie bewegten sich manchmal – und damit lebten sie.
    Er unterdrückte den Drang, laut zu kichern, und versuchte sich zu konzentrieren. Er musste das rein analytisch betrachten – und wenn es noch so irre war, was er hier gerade erlebte. Themenstränge und Motive herausarbeiten und daraus Handlungsmuster ableiten. Es ging um Märchen. Wenn
er
das nicht schaffte, wer dann? Er konnte das, er musste!
    Die Kinder waren der Größe nach geordnet. In der Mitte erkannte er Ronja. Das Mädchen hielt eine Stoffkatze in den Armen. Das Kind rechts von ihr musste Amelie sein. Sie hatte sich zur Seite gelehnt und die Knie leicht angezogen. Marie, die Kleinste, hing links, einen Daumen im Mund und die andere Hand ans Ohr gelegt.
    Jakob konnte nicht erkennen, wie genau die Mädchen befestigt waren. Er erreichte gerade ihre Taille, wenn er die Arme ausstreckte.
    Was konnte er tun? Er wagte nicht, sie zu wecken. Was, wenn sie losschrien und so seine Widersacherin heranlockten? Wo war sie überhaupt, diese Greta? Er hoffte, dass die vielen Suchtrupps im Wald sie davon abhielten, sich ungehindert zu bewegen.
    Er umkreiste den Baum, musterte ihn von allen Seiten. Er war dem Exemplar im Verbotenen Garten extrem ähnlich. Diesen Teil des Dokumentes akzeptierte er damit als wahr: Hans’ Vater, der Holzhacker aus einem unbekannten Dorf, hatte ein Wesen befreit, als er sich bei seiner Arbeit verletzt hatte. Das Wesen namens Greta. Hans, sein Sohn, hatte es geschafft, seine falsche Ziehschwester wieder in den Baum zu bannen. Und irgendein Ereignis in den letzten Tagen hatte dieses Wesen erneut befreit.
    Jakob kratzte sich am Kopf und grinste wider Willen. Er fragte sich, ob er im Begriff war durchzudrehen. In Märchen denken, beschwor er sich. Mit Märchenlogik kam er weiter: Das hier war ein verwunschener oder magischer Baum.
    Es waren drei Kinder. Nein, drei Mädchen. Das mochte der Grund sein, warum der arme Junge hatte sterben müssen. Die Zahl Drei war in Märchen immer wichtig. Der Held oder die Heldin versagte bei den ersten beiden Prüfungen, bestand jedoch die dritte. Jakob schaute zu den Mädchen auf, während ihn eine Gänsehaut überlief. Zweimal zu versagen war definitiv keine Option. Da er sich ohnehin nicht zum Helden berufen fühlte, musste er vom üblichen Verfahren abweichen.
    Was noch? Was konnte man mit magischen Bäumen anstellen? Er umrundete den Stamm ein zweites und dann ein drittes Mal. Richtig: Bäume in Märchen ließen sich oft öffnen oder bargen ein Versteck. Man konnte mit ihnen sprechen.
    Vorsichtig klopfte er an die Rinde. »Hallo Baum?

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