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So finster, so kalt

So finster, so kalt

Titel: So finster, so kalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Menschig
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Waldboden ausgebreitet hatten und nach etwas pickten. Jakob erkannte Dohlen und Saatkrähen. Die Elster, die zuvor so vorwitzig gerufen hatte, hüpfte, immer auf Abstand vor den größeren Krähen bedacht, am Rand des Schwarms herum.
    Insgesamt fand Jakob den Anblick recht normal, doch ihm fiel auf, dass sich die Vögel nicht, wie eigentlich üblich, um ihre Beute balgten, sondern einen desorientierten Eindruck machten. Sobald sie nach etwas auf dem Waldboden gepickt hatten, schauten sie auf und musterten ihre Artgenossen und die Umgebung mit ihrem schwarzen Blick. Dann pickten sie wieder, flatterten erbost und wiederholten ihr Gehabe ein paar Schritte weiter. Auf diese Weise bewegte sich der gesamte Schwarm einen kaum sichtbaren Wildpfad entlang.
    Nachdem Jakob das Spiel eine Weile beobachtet hatte, ohne einen Grund für das Verhalten der Tiere zu erkennen, kniete er sich hinab, um den Boden genauer in Augenschein zu nehmen.
    Da entdeckte er Brotstückchen. Irgendjemand hatte ein Weißbrot zerkrümelt und auf den Weg gestreut. Er griff nach einem größeren Krümel. Seine Finger stießen ins Leere und hoben eine Tannennadel auf. Verblüfft schnippte Jakob sie fort und streckte abermals Daumen und Zeigefinger aus. Er sah ganz genau, wie der hellweiße Krümel sich auf dem dunklen Waldboden zwischen den grauen Nadeln abzeichnete. Und spürte doch nur seine eigene Haut, als die Finger aufeinandertrafen.
    Er erhob sich. Seine Bewegung veranlasste die Nachzügler des Schwarms, empört krächzend zu den anderen aufzuschließen. Jakob fuhr mit dem Fuß über den Boden. Er schob Tannennadeln und Dreck zusammen, doch die Brotstückchen blieben an Ort und Stelle.
    Sie waren nur eine Halluzination, sichtbar für ihn und die Vögel, die weiterhin vergeblich nach den Krümeln pickten.
    Jakob hätte schreien können. Kein Wunder, dass keiner der Helfer eine brauchbare Spur fand. Vermutlich hätte er sie bis vor kurzem selbst nicht gefunden. Kinder, ja, Kinder glaubten noch an Wunder und an die Welt jenseits der Realität. Sie würden einer märchenhaften Brotkrumenspur in den Wald folgen.
    Und er? Offenbar war er inzwischen bereit, sich weit genug auf diese Art von Realität einzulassen, um die Spur zu sehen. Aber jetzt konnte er schlecht zur Polizei zurückgehen, ihr von einer imaginären Krümelspur erzählen und ihr nahelegen, ab jetzt nach einer uralten Sagengestalt zu suchen. Er, Jakob Wolff, ein Auswärtiger, der sich ganz schnell verdächtig gemacht hatte, bis der angesehene Björn Dreher ihm ein Alibi gegeben hatte.
    Wieder sah Jakob Ronjas fröhliches Gesicht vor sich, mit dem Gänseblümchenkranz auf dem braunen Haar, als sie einander zum ersten Mal begegnet waren. Kurz danach hatte sie sich erschreckt. Wovor? Was hatte das Mädchen gesehen?
    Da es um seine Glaubwürdigkeit hier schlecht bestellt war, blieb Jakob nur eine Möglichkeit: Wenn ihm an Merle und dem Leben der Kinder etwas lag, musste er Beweise heranschaffen. Er musste dieser Spur folgen, was immer ihn an deren Ende erwartete.
    Das war so ziemlich das Allerletzte, was er tun wollte.
    Mit einem zornigen Knurren setzte er sich in Bewegung, stapfte mitten durch die Vögel, die mit lautem Kreischen aufflatterten, und ließ in seiner Wut für einen Moment jegliche Vorsicht fahren. Und was sollte ihm schon geschehen? Der Pfarrer hatte ihm erzählt, Wilde Frauen hätten es auf Junggesellen abgesehen. Er hatte zwar nie geheiratet, war aber sicher, dass es Sagenwesen eher um sexuelle Erfahrung als um weltlichen Papierkram ging. Nein, Dryaden bescherten ihren Opfern den Sex ihres Lebens und saugten ihnen danach das Leben aus. Er hatte den Sex seines Lebens schon gehabt, mehrfach sogar, und zudem schien diese Dryade eher auf Kinder zu stehen. Falls es sie gab. Falls er sich nicht irrte. Hoffentlich.
    Er lief schneller. Die Dämmerung brach an.
    Dann erkannte er zwischen den Ästen ein Stück Himmel. Er näherte sich einer Lichtung. Durch das Marschieren hatte sich seine Wut verzogen und der Vorsicht wieder ihren Platz in seinem Verstand eingeräumt. Lauschend und mit leisen Schritten näherte er sich dem Ende des Pfades und spähte auf die offene Fläche.
    Mitten auf der Lichtung stand ein Baum. Eine alte Eiche, ganz ähnlich der, die er in Merles Verbotenem Garten gesehen hatte. Doch diese war so groß, dass vermutlich drei Erwachsene nötig wären, um den Stamm zu umschließen. Ein weiterer Blick in die Blätterkrone machte Jakob dann unmissverständlich klar, dass

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