So finster, so kalt
umarmen. Es sah grotesk aus, denn er konnte den dicken Stamm nicht einmal zur Hälfte umfassen. Der Wolf schleuderte den Apfel erneut. Dieses Mal landete er vor Merles Füßen und zerplatzte zu Mus.
Noch bevor die Botschaft in Merles Bewusstsein angekommen war, war sie losgelaufen. Jakob schüttelte den Baum ohne sichtliches Ergebnis. Jetzt erst erblickte Merle die goldenen Kugeln oberhalb der Köpfe der Mädchen. Sie begannen zu zittern, erst ganz schwach, dann immer stärker. Jakob hatte den Blick auf die Kugel direkt über sich gerichtet. Er merkte nicht, dass die andere sich auch gelöst hatte!
Merle ließ die Taschenlampe fallen. Wie in Zeitlupe sah sie Jakob nach der ersten Kugel greifen und sie sicher aus der Luft fischen. Er streckte sich nach der zweiten, doch er konnte sie unmöglich fangen. Merle stieß einen verzweifelten Laut aus und sprang. Mit ausgestreckten Armen langte sie in die Luft und fühlte die Kugel an ihren Fingerspitzen. Sie gab dem Ding einen unfreiwilligen Stoß, und der Drall wirbelte es noch einmal empor. Es flog Merle entgegen und landete auf ihren Oberarmen, während sie ins Gras plumpste. Sie zog die Arme an und umarmte ihre Beute.
Dann stürzte ein schwerer Männerkörper auf sie und drückte sie zu Boden, dass ihr die Luft wegblieb. Sie ächzte.
Im gleichen Moment war Jakob schon wieder auf den Beinen. »Die Mädchen!«, schrie er.
Merle winkelte die Beine an, bohrte Ellbogen und Fersen in die Erde und stemmte sich hoch. Sie stand gerade aufrecht, als Amelie auf sie stürzte und mit ihr ins Gras zurückpurzelte. Keuchend blieb sie liegen, während Amelie sich zitternd an sie schmiegte. Ein weicher Apfel lag zwischen ihren Körpern eingeklemmt.
»Wo kommst du her? Was machst du hier?«, stieß Jakob an Merle gewandt hervor, während er Ronja, die er offensichtlich aufgefangen hatte, behutsam auf dem Boden absetzte. Er überreichte dem Mädchen die ehemalige Kugel, die nun ebenfalls ein Apfel war. Anschließend beugte er sich vor und stützte sich immer noch schwer atmend auf seinen Knien ab.
»Das Gleiche könnte ich dich fragen«, entgegnete Merle verdattert. »Wie hast du hierhergefunden?«
Jakob runzelte die Stirn und starrte sie an. Dann griff er Amelie unter die Arme. Er stellte sie auf die Füße und reichte anschließend Merle die Hand, um sie hochzuziehen.
Merle klopfte sich den Dreck von den Hosenbeinen. Jetzt erst bemerkte sie, dass es heller geworden war. Das Licht, das bisher von den Kugeln ausgegangen war, war auf das Blätterdach des Baumes übergesprungen. Jedes einzelne Blättchen erstrahlte in blendendem Glanz und zerstob plötzlich zu tausend Funken. Lautlos trieben sie auf, um dann sanft zu Boden zu gleiten.
Die Mädchen begleiteten das kurze Schauspiel mit staunenden Ausrufen und streckten ehrfurchtsvoll die Finger nach den Glitzerfunken aus. Sobald eine ihre Handfläche berührte, zerplatzten sie wie Seifenblasen.
Merle war unwillkürlich an Jakob herangetreten und hatte zaghaft nach seinem Arm gegriffen. Er legte den Arm um ihre Hüften. Die Berührung und seine Nähe beruhigten sie, obwohl sie seine Anspannung spüren konnte. Er hatte genauso viel Angst wie sie, und sie beide vermutlich mehr als die Kinder. Unwissenheit konnte eine Gnade sein.
Um sie herum regnete es winzige Lichter. Die meisten erstarben, noch bevor sie die Erde erreichten.
Auf einmal grinste Jakob. Das Glitzern fing sich in seinen Augen. »Wie ich hierhergefunden habe? Ich bin einer magischen Weißbrotspur gefolgt. Du weißt schon, wie bei
Hänsel und Gretel.
Nur dass die Krümel bei mir nicht echt waren. Es war eine imaginäre Spur. Sie ist inzwischen verschwunden, ich kann sie dir leider nicht mehr zeigen.« Er grinste breiter. »Und du?«
Merle lächelte und schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich bin einem Wolf gefolgt. Der Wolf ist aber nur eine alternative Gestalt unseres Hausgeistes. Mein Vorfahr Hans spukt seit ein paar Jahrhunderten durch das Haus meines alten Großmütterchens.«
Sie grinsten einander wortlos an. Somit waren sie beide auf dem gleichen Level des Wahnsinns angekommen. Wie beruhigend.
Als der Goldregen nachließ, war der Baum verschwunden. Sie standen im Dunkeln auf einer stinknormalen Lichtung. Fahles Mondlicht verwandelte die Nacht in ein Schattenspiel von Grau und Schwarz.
»Ich möchte nach Hause!«, jammerte Amelie sofort. Sie war die Stillste von allen, hatte sich wie schutzsuchend genau in die Mitte zwischen Jakob und Merle auf der einen, Ronja
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