So finster, so kalt
und Marie auf der anderen Seite gestellt.
»Ich auch«, murmelte Merle kaum hörbar.
Sie ahnte Jakobs beipflichtendes Nicken mehr, als sie es sah, während er laut erklärte: »Da gehört ihr auch hin, Amelie. Du wirst sehen, nur noch ein kleiner Spaziergang, und schon liegst du in deinem Bett.« Seine Stimmte dröhnte in Merles Ohren voller falscher Zuversicht, doch Amelie beruhigte es.
»Dann gehen wir jetzt los«, forderte sie. »Wo ist Luke?«
Merle versetzte die Frage einen Stich, und Jakob reagierte, indem er sie unwillkürlich etwas an sich zog. Noch bevor einer von ihnen etwas sagen konnte, riss Ronja ihre Stoffkatze an den Mund und zeigte auf einen Punkt am Waldrand. »Die Reh-Frau!«
Eine Frau konnte Merle nicht erkennen, doch das Reh, das unvermittelt am Waldrand aufgetaucht war, war nicht zu übersehen.
»Oh nein! Bitte nicht!«, quiekte Amelie.
Marie stand wie angewurzelt mit weit aufgerissenen Augen und Mund.
Merle schluckte unsicher.
Auf den ersten Blick war es wieder ein ganz normales Reh. Nur die Konturen wollten dieses Mal nicht so ganz stimmen. Das Fell sträubte sich zu allen Seiten und zitterte an den Rändern. Das Tier passte, obwohl ein Reh in einem Wald etwas völlig Normales sein sollte, nicht dorthin.
Merle war klar, dass niemand außer ihr den lockenden Ruf vernahm. Greta wollte, dass Merle zu ihr kam. Sie hatte doch sonst niemanden. Hans hatte ihr damals Johann weggenommen und jetzt die drei Mädchen. Hans war wirklich gemein, und er …
»Ich glaube, wir sollten gehen«, raunte Jakob ganz dicht an Merles Ohr. Sie schrak sichtlich zusammen, und sein Griff um ihre Hüften wurde fester. Dann spürte sie, wie sich eine Kinderhand in ihre Rechte schob, und Gretas Bann brach endgültig. Im letzten Moment unterdrückte Merle einen erleichterten Schluchzer und nickte stattdessen Jakob zu. Gemeinsam scheuchten sie die Kinder vor sich her in die entgegengesetzte Richtung. Dabei bemühten sie sich, den Eindruck zu erwecken, dass alles in Ordnung wäre. Merle fand vor allem ihr eigenes Auftreten wenig überzeugend, doch die Tatsache, dass nun Erwachsene da waren, die sich um alles kümmerten, reichte den Mädchen. Erwachsene konnten das Monster unter dem Bett verscheuchen und es mit einer Reh-Frau nachts im Wald aufnehmen.
Merle wünschte sich sehnlichst, sie könne diesen kindlichen Glauben teilen. Sie musste sich zu jedem Schritt zwingen, so weich waren ihre Knie, und die Panik saß ihr wie ein kleines Tier im Nacken, jederzeit bereit, ihr seine spitzen Zähne unter die Haut zu jagen.
Jakob wirkte äußerlich ruhig, doch sein eckiger Gang und die fahrigen Bewegungen, mit denen er sich immer wieder umsah, verrieten seine Nervosität.
Sie waren fast unter den Bäumen angekommen, als Marie und Amelie gleichzeitig einen infernalischen Schrei ausstießen. Ihr Kreischen hallte über die Lichtung, während Jakob sich duckte und gleichzeitig beide Mädchen schützend an sich zog. Ronja keuchte nur leise und drängte sich gegen Merles Beine.
Merle selbst brauchte mehrere Sekunden, bis sie realisierte, warum sie als Einzige keine Angst empfand. »Keine Panik, es ist alles gut!«, rief sie in den Lärm.
Die Mädchen verstummten.
»Ist das der echte böse Wolf? Frisst der uns jetzt?«, wagte Ronja schüchtern an Jakob gewandt zu fragen.
»Nein, das ist unser Beschützer«, fuhr Merle resolut dazwischen. »Er kennt den Weg nach Hause und wird uns jetzt hoffentlich dorthin führen. Zu deinen Eltern zum Dreherhof. Lauft ihm nach!«
Die Mädchen gehorchten und stolperten hinter dem Wolf her. Jakob und Merle bildeten die Nachhut.
»Ist das Hans?«, flüsterte Jakob ihr zu.
»Ja.«
»Meinst du, er kann es mit diesem … Monster aufnehmen?«
»Man sollte meinem, dass ein Wolf einem Reh überlegen wäre. Aber nein, ich glaube, er kann nicht allein gegen Greta bestehen. Sonst hätte er diesen Kampf längst aufgenommen. Es bestimmt sein Dasein.«
Jakob brummte ungehalten. »Ich glaube das alles immer noch nicht.«
Merle zog die Schultern hoch. »Wir sollten uns jetzt erst mal überlegen, was wir den Eltern erklären.«
*
Nachdem offensichtlich wurde, dass sowohl Ronja als auch Merle ihre Orientierung wiedererlangt hatten, verschwand der Wolf wie ein silberner Schatten zwischen den Bäumen, als hätte es ihn nie gegeben. Greta zeigte sich nicht mehr, und Merle war sehr dankbar dafür. Spätestens auf der Lichtung hatte sie unumstößlich begriffen, was Greta wollte: sie, Merle Hänssler, die
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