So finster, so kalt
Letzte dieser Familie. Was hatte sie bei ihrer ersten Begegnung gesagt? Sie wollte ihr eigen Fleisch und Blut. Um was damit zu tun? Es sich einverleiben? Es vernichten?
Was immer es war, Merle wollte es um keinen Preis der Welt herausfinden. Denn in einem war sie sich sicher: Wenn sie in Gretas Fänge geriet, würde dieses Märchen für sie nicht gut ausgehen.
Alle fünf waren vollkommen erschöpft, als sie am Dreherhof ankamen. Jakob hatte Amelie huckepack auf den Rücken genommen und trug Marie auf den Armen. Merle ging hinter ihnen, weil Amelie darauf bestanden hatte, und schleppte sich mit Ronja ab. In der Ferne hörte sie eine Kirchturmuhr viele Male schlagen. Es war gerade mal zehn Uhr.
Trotzdem war der Hof hell erleuchtet. Menschen und Hunde wimmelten umher, wollten gerade aufbrechen, um ein weiteres Stück Wald zu durchsuchen. Ronja entdeckte ihren Vater als Erste. Ungeduldig zappelte sie, bis Merle sie zu Boden gelassen hatte. Beinahe wäre sie vor Aufregung über den Saum von Merles Sweatshirt gestolpert, das sie gegen die Kälte bekommen hatte. Es reichte ihr wie ein Minikleid bis an die Knie.
Jakob blieb stehen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Merle half ihm, die beiden Mädchen abzusetzen. Amelie und Marie wurden durch die vielen Leute verunsichert und blieben nur zu gern in der Nähe der vertrauten Erwachsenen.
»Merle? Jakob? Hier seid ihr.« Björn wurde von seiner Tochter durch die Menschen gezogen. Der Einsatzleiter, den Merle mittags am Gemeindesaal getroffen hatte, folgte ihm.
»Frag sie! Der echte böse Wolf hat uns nach Hause gebracht. Aber er war ganz lieb. Und hübsch.«
»Ronja, nun warte doch mit deiner Geschichte.« Björn wischte sich verstohlen eine Träne weg und nahm seine Tochter auf die Arme, um sie an sich zu drücken. Gleichzeitig kam er auf Merle zu, umarmte sie, flüsterte ihr ein heiseres »Danke!« ins Ohr und gab Jakob anschließend die Hand.
Der Einsatzleiter strahlte über das ganze Gesicht, als wären es seine eigenen Kinder, die sie gerade gefunden hatten. Er ließ sich von Björn bestätigen, dass alle Vermissten wohlbehalten aufgetaucht waren, und wandte sich dann ab, um die anderen Eltern zu informieren und die Suchaktion zu beenden.
Merle dankte ihm im Stillen, dass es ihm sehr rasch gelang, die umstehenden Neugierigen zu zerstreuen.
»Mit dem bösen Wolf meint sie mich.« Jakob grinste und zwinkerte Björn zu. »Die Beschreibung passt doch perfekt, meinst du nicht?«
»Nein! Ich meine …«, setzte Ronja empört an, doch Merle unterbrach sie. »Bitte sei uns nicht böse, aber wir sind todmüde und wollen erst mal unsere Ruhe. Komm einfach morgen mit Sarah zu uns, und dann werden wir dir alles erzählen.«
»Ich werde Sarah sofort anrufen. Wo waren die Mädchen denn jetzt?«
»Es war so, wie die Polizei vermutet hat«, erklärte Jakob in ruhigem Ton. Er versuchte vergeblich, Amelie von sich zu schieben, die ihn gar nicht loslassen wollte. »Sie waren auf einen Baum geklettert und hingen dort oben fest wie kleine Kätzchen. Merle war auf den Hof gekommen, um sich mit mir zu versöhnen, und wir haben einen Spaziergang gemacht, um ungestört zu reden. Natürlich haben wir immer ein Auge auf die Umgebung gehabt, und da haben wir sie entdeckt. Es war absoluter Zufall. Sie haben nämlich alle drei recht friedlich geschlafen.«
»So war das doch gar nicht!«, rief Ronja.
»Ihr habt zwei Tage auf einem Baum gehockt, weil ihr nicht mehr hinunterkonntet?«, fragte Björn sie erstaunt.
»Nein, doch, das stimmt, aber …«
»Besonders Ronja hat den anderen beiden in der Zeit alle Märchen erzählt, die sie kannte«, fuhr Merle fort. »Es kann sein, dass sie dadurch etwas verwirrt ist und dir Dinge über goldene Äpfel, Goldregen und verwunschene Gestalten erzählen wird, aber das gibt sich sicher schnell wieder. Dabei hat sie das toll gemacht und die anderen beiden von dieser doofen Situation abgelenkt. Wirklich klasse, Ronja!«, sagte sie an das Mädchen gewandt. In dessen Miene spiegelte sich erst Unsicherheit und dann Stolz. »Wirklich?«
»Na klar!«, stimmte Jakob zu.
Björn strubbelte seiner Tochter glücklich durch die Haare. Dann wurde er ernst. »Und Luke? Was ist mit ihm passiert? Habt ihr dafür auch eine Erklärung?«
»Ja, wo ist Luke?«, wollte Amelie wissen.
Merle warf Björn einen warnenden Blick zu und schüttelte kaum merklich den Kopf.
»Ist das hier Tollwutgebiet?« Jakobs Ton wurde beiläufig, als wolle er nun über das
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