So finster, so kalt
kratzte. Aus Hans’ Wunden floss immer mehr Blut. Er schrie hilflos: »Heilige Maria, Mutter Gottes! Bitte für uns Sünder jetzt und in der Stunde unseres Todes!«
Dann wurde ihm schwarz vor Augen. Er kämpfte gegen die Ohnmacht. Das Schreien des Kindes erstarb in seinen Ohren.
»Bevor der Hahn dreimal kräht, wirst du mich verraten haben!«
Der Hahn krähte zum dritten Mal.
Vier
Beute
M erle zuckte zusammen, stieß mit den Knien gegen den Tisch und unterdrückte einen Fluch. Ihre Beine traten wie von selbst um sich und trafen den Wartenden, der ihr schräg gegenüber saß.
Der funkelte sie wütend an. »Passen Sie doch auf! Und machen Sie endlich das Ding aus!«
Hastig murmelte Merle eine Entschuldigung und tippte ihr Smartphone an. Das Hahnengeschrei verstummte.
Vor ihren Augen flimmerte es noch ein paar Mal, bevor sich die Sicht wieder klärte. Ihr ganzer Körper protestierte gegen jede Bewegung, so sehr hatte sie sich in ihrer halb sitzenden Haltung verkrampft. Aber das war kaum ein Vergleich dazu, was dieser Hans durchgemacht hatte. Wovon hatte sie da gerade geträumt? Stand das alles in dem Text? Wo war der überhaupt? Merle schaute sich verwirrt um, bevor sie die Papiere unter dem Tisch verstreut entdeckte. Sie waren ihr vom Schoß gerutscht.
Sie blätterte über die ersten Seiten, die sie überflogen hatte, ohne das Gelesene bewusst aufzunehmen. Hatte ihr Unterbewusstsein die Geschichte zu einem Traum verarbeitet? Selbst wenn es so war, konnte sie sich nicht daran erinnern, jemals eine so lebhafte Fantasie besessen zu haben. Die Unruhe der anderen Passagiere unterbrach ihre Gedanken. Sie konnten endlich ins Flugzeug. Merle packte die Unterlagen sorgfältig in die Mappe und nahm ihre Tasche. Sie war erschöpft und aufgekratzt zugleich. Als hätte ihr Verstand wirklich gegen ein Ungeheuer gekämpft.
Als sie in Hamburg aus dem Flughafengebäude trat, merkte sie, wie frisch und angenehm die Nachtluft war. In Steinberg war es zum Nachmittag hin wärmer, aber auch drückender geworden. Hier im Norden hingegen fegte der frische Wind die Schwüle fort.
Sie nahm ein Taxi, zahlte schweigend, und kurz darauf schloss sie ihre Wohnungstür hinter sich. Sie war so müde, dass ihr selbst der runde Teppich vor der Garderobe verlockend weich erschien. Doch so sehr ihr Körper sich nach Schlaf sehnte, ihr Verstand kam nicht zur Ruhe. Hans und sein Sohn drängten erneut in ihr Bewusstsein. Der kaum erwachsene Junge mit dem blutverschmierten Baby stand ihr immer noch allzu deutlich vor Augen. Waren die beiden wirklich Vorfahren? War das Haus, in dem die Alte verbrannt war, Omis Haus?
Mechanisch zog Merle sich Mantel und Schuhe aus. Ihr Verstand war eindeutig völlig überreizt. Vermutlich war sie bereits im Halbschlaf gewesen, hatte in Omis Unterlagen ein paar Begriffe aufgeschnappt und diese dann zu einem wirren Traum komponiert. Es war auch völlig logisch, dass das Haus im Traum haargenau so aussah wie Omis Haus. Merle kannte kein anderes altes Schwarzwaldhaus, und das Unterbewusstsein griff doch immer auf Bekanntes zurück, oder?
Der Rest waren sinnlose Hirngespinste. Vermutlich hatten sie überhaupt nichts damit zu tun, was in den Unterlagen stand.
Es gelang Merle nicht, sich vollständig von diesem Gedanken zu überzeugen. Während sie ins Schlafzimmer und von dort ins Bad schlurfte, gab sie den inneren Kampf gegen sich selbst auf und entschied, noch einmal in Omis Unterlagen nachzulesen. Sie wusste, dass sie sonst keine Ruhe finden würde. Sie musste überprüfen, was dort gestanden hatte und anschließend von ihrem Unterbewusstsein verarbeitet worden war. Wie klar die Bilder dieser Geschichte in ihrem Verstand verankert waren! Noch nie hatte sie eine derartige zusammenhängende Geschichte geträumt. Alles stand ihr noch so deutlich vor Augen, als hätte sie es selbst erlebt. Sie erinnerte sich an jedes Wort, das Hans gesagt, und an alles, was er getan hatte. Sie konnte sogar seine Furcht nachspüren und hatte eine viel zu deutliche Vorstellung davon, wie es ihm ergangen war.
Das war nicht normal.
Sie blickte sich um, und mit einem Mal stürmten weitere Bilder auf sie ein: Ihr Bad mit dem dunklen Schieferboden, passend zu hellgrauen Mosaikfliesen und der gläsernen Duschkabine, im Gegensatz zum bahamabeigen Waschbecken ihres Vaters mit dem wilden braunen Fliesenmuster darüber. Dazu Hans, der, noch immer ein halber Junge, mehr schlecht als recht einen kleinen Abort abseits des Wohnhauses
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