Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
So finster, so kalt

So finster, so kalt

Titel: So finster, so kalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Menschig
Vom Netzwerk:
Gitter davor. Wie erwartet war alles in Ordnung, und der Kontaktalarm an den Fensterflügeln hatte nicht ausgelöst. Merle lehnte sich gegen eine Tür des Kleiderschrankes und ließ ihren Blick durch das Zimmer schweifen. Eine zerwühlte Betthälfte, die Kleidung vom Vorabend über dem Stuhl vor der alten Kommode, ein Buch und Unterlagen über den Fall Frohn auf ihrem Nachttisch. Nichts deutete darauf hin, dass außer ihr irgendwer im Raum gewesen war. Ohne dass sie es überprüfen musste, wusste Merle, dass es in der gesamten Wohnung nicht anders war.
    Sie schluchzte trocken. Vor fast einer Woche hatte sie zum letzten Mal durchgeschlafen. Tagsüber konnte sie kaum die Augen offen halten und sich nicht konzentrieren. Irgendwie hatte sie weitergemacht, aber jetzt ging ihr langsam die Energie aus. Noch fünf Tage bis zum Prozess. Wenn sich ihr Vater wenigstens melden würde!
    Doch noch schlimmer als der permanente Schlafmangel wog die Ungewissheit. Was geschah nur mit ihr? Wo führte es hin? Wann nahm es ein Ende? Seit sie vor zwei Nächten auf dem Balkon aufgewacht war – ein Bein bereits über der Brüstung –, schloss sie sich ein. Zwar wäre sie an einem Sturz aus dem zweiten Stock vermutlich nicht gestorben, aber sie hasste dieses Gefühl, sich selbst ausgeliefert zu sein. Von den körperlichen Folgen ganz zu schweigen.
    Merle trottete ins Bad und vermied den Blick in den Spiegel. Sie hatte in den letzten Wochen ordentlich abgenommen, und das, wo sie ohnehin um jedes Pfund kämpfte. Inzwischen sah sie aus wie eine Spitzmaus. Eine völlig übermüdete Spitzmaus mit dunklen Rändern unter dunkelgrünen Knopfaugen. Jede Frau, die sie kannte, beneidete sie darum, dass sie kaum zunahm, aber sie wäre lieber etwas zu dick als zu dünn gewesen.
    Sie zog das verschwitzte Nachthemd aus und erstarrte noch in der Bewegung. Was waren das für zwei Abdrücke unterhalb ihres Busens? Sie ließ das Nachthemd fallen und betrachtete die zwei schwachen, blauen Flecke genauer. Sie hatten die Größe von Golfbällen, und tatsächlich fühlte es sich so an, als hätten zwei davon sie in vollem Flug getroffen.
    Oder als hätte ein kleines Männchen ihr seine Fersen in die Rippen gebohrt.
    Merle starrte auf die Male, während ihr das Herz bis zum Hals klopfte. Dann flüchtete sie hastig unter die Dusche und ließ das heiße Wasser so lange laufen, bis ihre gesamte Haut krebsrot geworden war und die beiden Abdrücke kaum noch auffielen.
    *
    Nachdem Merle bis zum späten Nachmittag Prozessunterlagen gewälzt und damit die quälenden Gedanken an ihre Alpträume und ihre Familie erfolgreich verdrängt hatte, entschied sie sich zur Belohnung für einen kleinen Spaziergang. Geruhsam ließ sie sich durch die Innenstadt treiben. Wie von selbst trugen ihre Füße sie durch das Hanseviertel und die Alte Post, zwei ihrer Lieblingspassagen. Dabei fiel ihr auf, dass sie mit der Alten Post viel gemeinsam hatte. Die Fassade war noch die alte, aber sie kannte kein anderes Gebäude in der Stadt, das so oft entkernt und runderneuert worden war. Gedankenverloren betrachtete sie die Verzierungen an der Fassade, während vor ihrem geistigen Auge das strenge, aber gütige Gesicht ihrer Großmutter aufblitzte. Merle hatte ihr nie viel von ihrem Leben in Hamburg erzählt. Warum eigentlich nicht? Weil sie Missbilligung befürchtet hatte? Vielleicht waren ihre Alpträume nur ein Zeichen dafür, dass sie kurz davor stand, wieder eine neue, völlig andere Richtung einzuschlagen? Ein Warnsignal, dass sie mit ihrem Leben nicht so weitermachen sollte?
    Eine wehmütige Erinnerung trieb sie zum
Vier Jahreszeiten.
Als ihre beste Freundin Monika aus Freiburg sie damals noch zu Studentenzeiten besucht hatte, waren sie eines Nachmittags in das Hotel gegangen, hatten Kaffee getrunken und Kuchen gegessen. Es war sündhaft teuer gewesen, aber sie waren sich wie in einem englischen Kostümfilm vorgekommen und hatten große Pläne geschmiedet. Es hatte sich großartig angefühlt. Es war überhaupt eine großartige Zeit gewesen.
    Kurz nach Monikas letztem Besuch hatte sie ihr Referendariat in der Anwaltskanzlei begonnen. Sie war gut gewesen, sogar sehr gut, und schaffte den Durchmarsch von der Referendarin zur Teilhaberin der Kanzlei. Schon nach wenigen Jahren hätte sie täglich im
Vier Jahreszeiten
Kaffee trinken können, ohne bei der Rechnung mit der Wimper zu zucken. Nur dass sie kaum Zeit mehr für derlei Luxus gehabt hatte und erst recht nicht mehr diese simple Freude

Weitere Kostenlose Bücher