So finster, so kalt
daran empfand.
Stattdessen hatte sie ihren Tunnelblick auf ihre Karriere gerichtet. Die lebenslange Freundschaft mit Monika war dabei ebenso auf der Strecke geblieben wie viele andere. Und nachdem sie Michael kennengelernt hatte, hatte dieser erfolgreich dafür gesorgt, dass sie jeden Gedanken verdrängte, der nicht um Gerichte, Streitfälle und Geld kreiste. Vor allem um Geld.
Merle sah an sich herunter und fühlte sich mit ihrem Rock und dem sportlichen Blazer gerade gut genug angezogen. Sie betrat das Hotel, gab ihren Mantel ab und wurde von einem der Ober in eine Sitzecke geführt. Sie hatte gerade Kaffee und ein Stück Obsttorte mit Sahne bestellt, als ihr Smartphone klingelte. Sie riss es aus der Handtasche, hoffte auf ihren Vater und starrte stattdessen auf eine unbekannte Handynummer.
»Ja, hallo?«
»Guten Tag, mein Name ist Jakob Wolff. Spreche ich mit Frau Hänssler?«
»Das bin ich.«
Wolff? Jakob Wolff? Wer was das noch gleich?
»Tut mir leid, dass ich mich an einem Samstag melde, aber Ihre E-Mail hat mich neugierig gemacht. Da dachte ich, ich rufe einfach mal an.«
»Wie nett von Ihnen.«
Richtig, jetzt fiel es ihr wieder ein. Dieser sympathische Germanist aus Freiburg. Sie hatte sich das Gesicht gut merken können, den Namen dagegen wieder vergessen.
»Sofern es Ihnen recht ist, könnten wir uns sogar persönlich treffen. Ich bin nämlich bis Montag in Hamburg.«
»Warum nicht? Dann kann ich Ihnen die Unterlagen, um die es geht, zeigen. Ich trinke gerade noch einen Kaffee. Danach bin ich zu allen Schandtaten bereit.«
Merle hörte ihn am anderen Ende der Leitung lachen. Es klang angenehm.
»Wo sind Sie denn gerade?«
»Im
Vier Jahreszeiten.
«
»Was für ein Zufall! Ich stehe am Alsterpavillon. Ich könnte direkt rüberkommen.«
»Na, warum eigentlich nicht?« Merle zuckte die Schultern. Wolffs Direktheit irritierte sie, aber sie hatte für heute genug nachgedacht. Dieser Tag sollte selbst entscheiden, wie er sich gestaltete.
Sie hatte ihr Smartphone kaum wieder verstaut, als der Ober einen dunkelhaarigen Mann Anfang vierzig hineinführte, der sich suchend umblickte. Das Foto auf der Webseite war eindeutig schon einige Jahre alt gewesen. Jetzt trug Jakob Wolff die Haare etwas länger, und sie waren an den Schläfen deutlich angegraut. Trotzdem erkannte sie ihn sofort.
Merle stand auf und winkte ihn heran. Sie schüttelten sich die Hände und setzen sich einander gegenüber. Er bestellte ebenfalls Kaffee und Merle noch eine Flasche Mineralwasser.
»Sind Sie gejoggt?«, fragte sie endlich. »Ich hatte den Weg vom Jungfernstieg weiter in Erinnerung.«
Herr Wolff lächelte breit und entschuldigend. »Ich war schon etwas weiter gegangen. Ich wollte Sie nicht warten lassen.«
»Macht nichts. Aber ich habe die Unterlagen natürlich nicht dabei.«
»Erzählen Sie mir doch erst mal, worum es genau geht.«
»Das ist nicht so einfach zu erklären. Ich habe von meiner Großmutter ein Dokument geerbt, eine Abschrift aus dem siebzehnten Jahrhundert. Angeblich handelt es sich um einen Bericht eines unserer Vorfahren. In dem Dokument ist davon die Rede, dass er eine alte Frau umbringt und dann deren Haus besetzt. Seine Ziehschwester zeugt mit ihm ein Kind und ist angeblich von einem Dämon besessen.«
Merles Gegenüber verzog amüsiert die Mundwinkel. Jetzt, wo sie es laut aussprach, wurde ihr selbst bewusst, wie bizarr das alles klang. Auf einmal war es ihr peinlich, dass sie Jakob Wolff angeschrieben und um Rat gebeten hatte. Die Erklärung für den Inhalt des Dokumentes war völlig naheliegend: Hans hatte Wahnvorstellungen gehabt.
»Ich habe Sie angeschrieben, weil meine Großmutter Margarete Hänssler deswegen Kontakt mit der Universität Freiburg aufgenommen hat. Man hat sie von dort nach Leipzig weiterverwiesen. Das Original ist auf Latein verfasst. Ein Professor aus Leipzig hat es übersetzt und analysiert«, fuhr Merle fort. Sie hörte die Rechtfertigung aus diesem Satz und ärgerte sich gleichzeitig darüber.
»Wer war das denn, der den Text übersetzt hat?«
»Ein Professor Hermann Steiner.«
»Oh, der.« Herr Wolff schnaubte belustigt auf. »Weißt du – oh Entschuldigung, ist mir so rausgerutscht. Ich bin das aus meinem akademischen Umfeld so gewohnt, besonders gegenüber Leuten, die viel jünger sind als ich. Können wir nicht ›du‹ sagen?«
Merle setzte ein unverbindliches Lächeln auf. Ein strategischer Versprecher, ein Kompliment über ihr Alter und eine Verbrüderung
Weitere Kostenlose Bücher