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So finster, so kalt

So finster, so kalt

Titel: So finster, so kalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Menschig
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neben ihn. Sie bewegte sich wieder ganz normal, und sehr zu seiner Verwunderung leuchtete auf ihrem Gesicht ein sanftes Lächeln. »Du hast sie getötet. Ich bin dir zu Dank verpflichtet.«
    »Ich wollte das nicht. Warum hast du mich geschlagen?« Hans wollte zurückweichen, doch sie legte ihre Arme um seinen Nacken. Sie beugte sich vor und küsste ihn ganz sanft auf den Mund. Hans erstarrte bei der Berührung ihrer feuchten Lippen.
    Bevor er reagieren konnte, hatte sie sich von ihm gelöst. Sie lächelte noch immer, aber ihre Augen hatten sich verändert. Statt der unergründlich schwarzen Tümpel erblickte er loderndes Rot, das ihn ängstlich aufkeuchen ließ. Ihr Tonfall wurde hart, als sie ihm befahl: »Mach das hier sauber. Dann kochst du uns eine Mahlzeit und richtest mir ein Nachtlager. Steh nicht herum wie eine Statue, hurtig!« Sie senkte ihre Augenlider und spitzte den Mund. »Ich habe Hunger.«
    Hans’ Verstand war wie gelähmt. Und so gehorchte er ihr.
     
    Dieser Kuss war die letzte nette Geste, mit der Greta Hans für lange Zeit bedachte. Er begriff nicht, was geschah. Er begriff nicht, was mit
ihm
geschah. Sein Leben war von einem Tag auf den anderen nicht mehr dasselbe. Die alte Frau war fort. Greta entschied, dass sie in dem Haus bleiben sollten. Sie befahl Hans, eines der vier kleinen Zimmer im ersten Stockwerk für sie herzurichten. Die anderen Zimmer wurden verschlossen, und er durfte nicht hinein. Er musste in dem Verschlag schlafen, in dem die Frau ihn eingesperrt hatte. Seine Hand verheilte schlecht. Der Knochen wuchs schief zusammen und schmerzte immer wieder, besonders bei Wetterumschwüngen. Doch das war lange nicht das Schlimmste. Er übernahm die Aufgaben eines Mannes und einer Frau im Haus gleichermaßen und schuftete, bis er auf das dünne Stroh fiel, das Greta ihm als Lager gewährt hatte. Wenn er ihren Wünschen nicht rasch genug nachkam, prügelte sie ihn mit dem Besen oder anderen Dingen, die sie gerade fand.
    Sie selbst tat nichts, oder besser gesagt nichts, in dem Hans einen Sinn erkennen konnte. Es kam vor, dass sie stundenlang um das Haus strich, die Wände abklopfte oder sich am Waldrand einzelne Bäume ansah, als suchte sie nach Spuren. Weiter als bis zum Waldrand ging sie niemals. Für Hans sah es so aus, als ob sie es nicht könnte. Als ob eine unsichtbare Fessel sie an das Haus gebunden hatte. Im Haus wurde sie besonders von der Esse in der Stube angezogen, wagte jedoch meistens nicht, sich ihr zu nähern. Zumindest dann nicht, wenn Hans in der Nähe war und beobachten konnte, was sie dort tat. Das Feuer, schon allein die Glut, mied sie um jeden Preis.
    Natürlich versuchte er zu fliehen. Zu Beginn traute er sich nicht, weil er seine Eltern und Pater Gangolf enttäuscht hatte. Mit der Zeit überwand er seine Ängste. Mehrmals brach er auf, überzeugt, in die richtige Richtung zu laufen. Doch welchen Pfad er auch wählte oder ob er mitten durch den Wald lief, er kam immer wieder zur Hütte zurück. Der einzige Weg, der woanders hinführte, war der nach Steinberg am Fuße des Hügels. Er hatte zuvor nie von diesem Dorf gehört, aber es war, wie sein Heimatdorf, in der Nähe von Lörrach. Sein Heimatdorf … wie hieß es noch gleich? Voller Trauer erkannte er, dass er es vergessen hatte.
    Nach jedem Fluchtversuch sperrte ihn Greta tagelang in den Verschlag, den er selbst wieder ausbruchsicher hatte instand setzen müssen. Er bekam weder Wasser noch Brot, und danach musste er stundenlang die liegengebliebenen Arbeiten verrichten. Hans verstand die Welt nicht mehr. Zuerst glaubte er, Greta ließ ihm Gottes Strafe zuteilwerden, weil er die alte Frau umgebracht hatte. Dabei hatte er doch versucht, sie zu retten! Mit der Zeit aber hatte er vielmehr den Eindruck, dass es Greta einfach Spaß machte, ihn zu quälen. Und sie wurde kräftiger, ebenso wie er. Ansonsten veränderte sie sich kaum.
    Er wuchs zu einem jungen Mann heran, mit starkem Kreuz und breiten Schultern von der vielen Arbeit, und doch war es ihm nicht möglich, sich gegen sie zu wehren. Nicht nur, weil sie ein Mädchen war, das zu einer jungen Frau heranreifte. Er würde niemals eine Frau schlagen. Das hatte sein Vater ihn von Kindesbeinen an gelehrt, und es hatte ihn von einigen anderen Männern und Vätern im Dorf unterschieden. Immer wieder trieb Greta ihn jedoch über diese Überzeugung hinaus, und er wäre bereit gewesen zurückzuschlagen, aus lauter Verzweiflung und Schmerz. Aber er tat es nicht. Denn tief im

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