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So finster, so kalt

So finster, so kalt

Titel: So finster, so kalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Menschig
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zusammenzimmerte.
    Merle stürzte zum Waschbecken und ließ eiskaltes Wasser über ihr Gesicht laufen, während sie sich gleichzeitig ganz auf die Empfindung des warmen Steinbodens unter ihren nackten Füßen konzentrierte. Was war los mit ihr? Zum Henker, das war doch nicht das erste Mal in ihrem Leben, dass sie völlig übermüdet war! Was würde erst passieren, wenn sie in die Küche ging? Sie wollte es gar nicht erst ausprobieren.
    Mit einem Handtuch rieb sie sich durch das Gesicht, bis die Haut prickelte. Dann zog sie ihren Bademantel, der stets griffbereit hinter der Tür hing, über und ging durch das Wohnzimmer in ihr kleines Büro. Dort breitete sie die Unterlagen auf ihrem Schreibtisch aus und brauchte nicht lange, um festzustellen, dass ihr »Traum« in der Wartehalle des Flughafens mit den ersten fünf Seiten des Textes übereinstimmte. Erschreckend übereinstimmte. Schon irre, was das Unterbewusstsein aus so einem Text machen konnte. Nein, beklemmend.
    Unbehaglich blickte Merle sich im Raum um. Dann schaltete sie den Computer auf ihrem Schreibtisch ein und beobachtete müßig, wie das System startete. Im Internet war sie einigermaßen sicher vor Halluzinationen. Für diesen Teil der modernen, technisierten Welt gab es in den Leben ihrer Vorfahren keine Entsprechung. Zumindest hoffte sie das.
    Sie rief die Seite der germanistischen Fakultät in Leipzig auf, fand aber auf die Schnelle keinen Hinweis auf Professor Steiner. Das hatte sie auch kaum erwartet. Der Herr musste mindestens in Omis Alter gewesen sein und war vermutlich bereits emeritiert gewesen, als die Universität ihre ersten Internetseiten ins Netz gestellt hatte. Sie wechselte zur Universität Freiburg. Dort hatte Omi recherchiert. Ohne recht zu wissen, wonach sie suchte, betrachtete sie die Seiten der wissenschaftlichen Mitarbeiter. An einem Profil blieb sie hängen:
    »Doktor Jakob Wolff, seit 2004 an der germanistischen Fakultät, Forschungsschwerpunkte westoberdeutscher (alemannischer) Sprachraum, Sagen des süddeutschen Raums und der Nord-Alpen, Promotion zur linguistischen Analyse der rezeptiven Verarbeitung verbaler …« Himmel! Und sie hatte stets geglaubt, nur Juristen legten Wert darauf, sich kompliziert auszudrücken.
    Merle lachte laut auf und merkte, dass ihre Anspannung endlich etwas nachließ. Sie hatte nicht ganz verstanden, was dieser Wolff machte. Aber der Hinweis auf die Sagen könnte die richtige Richtung sein. Eine Sage war vielleicht kein Märchen, aber so groß konnten die Unterschiede nicht sein. Außerdem sah der Typ nett aus. Kurze dunkle Haare zu einem offenen Gesicht, markantes Kinn und breites Lächeln. Klar, es war ein gekünsteltes Passfoto-Lächeln, aber trotzdem sympathisch. Kurz entschlossen schrieb sie eine Mail mit der Bitte um Kontaktaufnahme. Vielleicht konnte er ihr weiterhelfen. Danach ging sie ins Bett. Sie ahnte, dass ihr keine ruhige Nacht bevorstand. Es war einfach zu viel geschehen.
    *
    Merle lag auf dem Rücken und riss die Augen auf. Sie wollte schreien, doch auf ihrer Brust saß ein kleines Wesen, das ihr mit seinem Gewicht die Luft abschnürte. Vergebens versuchte sie, die Arme zu heben. Ihre Glieder waren bleischwer und fühlten sich an, als gehörten sie nicht zu ihrem Körper. Sie spürte einen Windstoß auf ihrem schweißnassen Gesicht, würgte, kämpfte um einen Atemzug. Von dem Monster auf ihrem Brustkorb konnte sie nur Umrisse erkennen und hätte nicht einmal sagen können, ob es ein Tier oder etwas Menschenähnliches war. Aber das war auch nicht wichtig. Schon seine Anwesenheit in ihrem Schlafzimmer, in ihrem Bett war genug für nackte Panik. Sie wollte schreien, fliehen und konnte nicht einmal einen Finger krümmen.
    Das Wesen bohrte seine Fersen oder Fäuste in ihren Leib. Sie war ihm hilflos ausgeliefert. Der Druck verstärkte sich, und lange dünne Finger legten sich um ihren Hals. Vergebens rang sie nach Luft. Ihr Mund wurde trocken, der Pulsschlag beschleunigte sich, und ihr letzter Gedanke war, dass sie als Kind einem Irrglauben angehangen hatte: Unter der Bettdecke war es nicht sicher. Sie würde unter dieser Decke sterben. Jetzt.
    *
    Ob der Radiowecker nur wenige Augenblicke oder viele Stunden später ansprang, wusste Merle nicht zu sagen. Ein starker Kopfschmerz donnerte durch ihre Schläfen, aber sie konnte Arme und Beine bewegen. Keine Spur von einem Eindringling.
    Mühsam quälte sie sich aus dem Bett und kontrollierte das bodentiefe Schlafzimmerfenster mit dem hüfthohen

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