So finster, so kalt
in nur einem Satz. Sie saßen einander nicht einmal zehn Minuten gegenüber, und dieser Wolff war schon bis in die Vorhalle gestürmt, ohne je angeklopft zu haben. Er sollte nicht glauben, sie wäre leichte Beute. Andererseits fiel ihr kein Grund ein, nicht auf das Angebot einzugehen.
Sie lächelte etwas mehr und prostete ihm mit der Kaffeetasse zu. »Merle.«
Er hob seinerseits die Tasse und sah ihr gerade in die Augen. »Jakob.«
Seine Augen waren von einem tiefen Braun, das Merle an den samtenen Glanz von frisch gepflügtem Ackerboden erinnerte. Wenn sich die Erde noch feucht und glatt ausbreitete, als ob man sie sanft gestreichelt hätte. Sie hätte sich ohne Mühe darin verlieren können, doch Jakobs Stimme holte sie wieder in die Gegenwart zurück.
»Hermann Steiner hat die Professur kurz nach dem Zweiten Weltkrieg bekommen. Eine landesweit bekannte Koryphäe auf dem Gebiet der Märchen- und Sagenforschung. Viel bekannter war er unter dem Namen Professor Rübezahl, weil er aus dem Riesengebirge stammte und angeblich genauso unleidlich war. Absolut linientreu zum DDR -Regime, vermutlich Alt-Nazi und Stasi-Spitzel. Er wurde Ende der Siebziger emeritiert und starb einige Jahre später an Krebs. War vermutlich besser so. Den Untergang der DDR hätte er nicht verkraftet.« Jakob hob abwehrend die Hände. »Das ist alles, was ich über ihn weiß. Was hat der mit deiner Familie zu tun?«
»Er selbst? Nichts. Aber sein Forschungsschwerpunkt. Meine Großmutter hat ihm das Dokument geschickt, weil sie wissen wollte, ob dieser Hans, von dem die Rede ist, einer unserer Vorfahren sein kann und was an der Geschichte Wahres dran ist. Die Geschichte hat meine Großmutter an
Hänsel und Gretel
erinnert.«
»Hausbesetzung und ein Dämon? Ich sehe da noch keine Parallelen.«
Immerhin lachte Jakob sie nicht aus und sah sie vielmehr fragend an.
Merle hatte das Gefühl, dass ein Teil ihres Selbst neben ihr stand und verwundert den Kopf schüttelte. Offensichtlich war sie überhaupt nicht mehr in der Lage, einen Standpunkt vernünftig darzulegen. Sie grinste verlegen. »Ich weiß selbst, dass die ganze Geschichte mehr wie die eines Wahnsinnigen klingt. Aber das Haus, um das es in der Geschichte geht, ist dem Haus meiner Großmutter erschreckend ähnlich. Es steht ungefähr drei Kilometer vom nächsten Ort entfernt, mitten im Hochschwarzwald. Ich will herausfinden, was dort damals wirklich passiert ist. Wenn das überhaupt möglich ist.«
Jakob nickte verständnisvoll. Trotz seiner Zweifel hatte Merle das Gefühl, dass er sie ernst nahm und ihn die Geschichte interessierte. Dafür, dass die ganze Sache reichlich unglaubwürdig klang, konnte er schließlich nichts.
»Kannst du mir mehr über das Haus erzählen? Was ist so Besonderes daran?«
»Ja, also.« Merle verstummte. Plötzlich widerstrebte es ihr, mit einem Wildfremden über Omis Häuschen zu sprechen. Es war schließlich nicht irgendein Gebäude, eher ein … Familienmitglied. Innerlich wies sie sich sofort zurecht. Wie albern! Klar, sie hing an dem Haus, und sicherlich blieb mit ihm ein Teil der Erinnerungen an ihre Großmutter lebendig. Aber es war trotz allem ein Haus, Punkt.
»Na ja, besonders ist relativ.« Sie hoffte, dass es ihr gelang, gelassen zu klingen. »Es ist ein typischer, wenn auch sehr kleiner Schwarzwaldbauernhof. Meine Vorfahren waren tatsächlich lange Zeit Holzfäller, überwiegend Selbstversorger, und haben über Jahrhunderte ein paar Waldparzellen bewirtschaftet. Das Haus ist seit vielen Jahrzehnten weitgehend in seinem ursprünglichen Zustand belassen worden. Meine Omi hat sich gegen jede Veränderung gewehrt. Trotzdem fehlt es einem da oben an nichts.«
»Es klingt nach einem sehr freundlichen Ort.«
Merle stutzte ein wenig über den Tonfall ihres Gegenübers. Er klang ihr eine Spur zu neugierig.
»Du musst dich dort sehr wohl gefühlt haben. Hast du manchmal das Gefühl gehabt, selbst ein Märchen zu erleben?« Jakob zwinkerte ihr verschwörerisch zu, doch bevor Merle sein Gehabe interpretieren konnte, lachte er laut auf. »Entschuldige. Das war nicht ganz ernst gemeint. Das ist eine kleine Passion von mir. Neben meiner Forschungstätigkeit suche ich privat nach solchen Orten. Alte Burgen, Katen, Bauernhöfe, Häuser im Wald, die Schauplatz eines Märchens gewesen sein können, oder zumindest die Vorlage dafür. Das ist natürlich keine ernsthafte Wissenschaft. Bisher habe ich nichts entdeckt, das auf einen solchen Schauplatz hinweist.
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