So finster, so kalt
Dazu sind viele der Märchen zu alt. Leider.«
Merle nickte belustigt, denn was Jakob sagte, beruhigte sie und ließ sie mit dem Inhalt des Dokumentes etwas unbefangener umgehen. Wenn dieser Wolff in diesen Dingen die nötige Fantasie aufbrachte, nahm er die gesamte Angelegenheit angemessen ernst. Außerdem lag er mit seiner Vermutung nicht einmal sehr daneben. Unvermittelt erinnerte sie sich daran, wie sie früher mit Björn gespielt hatte. Natürlich hatten Märchen im Mittelpunkt gestanden, dafür hatte Omi gesorgt. Es war Merle immer leichtgefallen, in dem Haus ein Knusperhäuschen zu sehen. Sie hatte nur blinzeln müssen, und die braunen Holzschindeln auf dem Dach verwandelten sich in Lebkuchen. Das Dach selbst reichte noch im Erdgeschoss an der hangzugewandten Seite bis auf den Boden, wo sich ständig rotes und gelbes Moos bildete. Aus der Ferne konnte man es für kandierte Erdnüsse und Mandeln halten, und der rauhe Lehmputz der Wände sah sowieso aus wie Sahne oder Zuckerguss. Einmal hatten sie sich aus Papprollen und rot-weißem Absperrband übergroße Zuckerstangen gebastelt. Irgendwo musste Papa noch Fotos davon haben. Merle war Gretel gewesen, Björn ihr Bruder Hänsel. Dann hatten sie Brot aus der Küche geklaut, um damit eine Spur zu streuen. Das war das einzige Mal, bei dem sie wegen ihres Spiels Ärger bekommen hatten.
Merle hatte auch Schneewittchen gespielt, Rapunzel oder Dornröschen. So lange, bis Björn an einem Sommerferientag nicht mehr Prinz sein wollte und sich vor allem geweigert hatte, sie wachzuküssen. Er hatte diese Idee total unmöglich gefunden und sich darüber aufgeregt, wie Merle so etwas von ihm verlangen konnte. Als Rache hatte er ihr kurz darauf eine fette Kröte unter die Nase gehalten – und die wiederum hatte Merle nicht küssen wollen. Also hatten sie geschlagene zwei Tage darüber gestritten, ob es nun einen Unterschied machte, eine Kröte oder ein Mädchen zu küssen. Björn sah keinen, zumal völlig klar war, dass aus der Kröte kein Prinz wurde.
Als sie älter geworden waren und das Fernsehen seinen unausweichlichen Einfluss ausgeübt hatte, waren Robin Hood und Lady Marian hinzugekommen, die Rote Zora, Pippi Langstrumpf oder die Themen der ZDF -Weihnachtsserien. Björn und sie hatten ein Baumhaus in einem alten Apfelbaum gebaut, das wahlweise zu einem Piratenschiff oder Räuberunterschlupf erklärt wurde. Ihnen waren die Ideen nie ausgegangen.
»Was ist aus deinem Vorfahren geworden?«, drang Jakobs Stimme wieder in ihre Erinnerung.
Sie räusperte sich. »Ich habe es noch nicht in allen Einzelheiten nachgelesen. Die Analyse von Professor Steiner ist sehr umfangreich. Es endet damit, dass Hans in ein etwa sechzig Kilometer entferntes Kloster im Elsass pilgert und dort nach einer Folter exorziert wird. Er glaubt zu dem Zeitpunkt, selbst von dem Dämon besessen zu sein, der seine Ziehschwester beherrscht hat. Nach einem angeblich erfolgreichen Exorzismus nimmt er den Ordensnamen Liberius an und lebt als Laienbruder im Kloster bis zu seinem Tod zwei Jahre darauf.«
Jakob schwieg und überlegte. »Ich kann mir den Text gerne ansehen«, meinte er nach einer Weile. »Ich kann in den Archiven der Fakultät stöbern und Kollegen in Leipzig anschreiben, ob Rübezahl etwas hinterlassen hat. Letzteres wird allerdings dauern. Aber ich verstehe immer noch nicht, was genau du herausfinden willst.«
»Ich weiß es selbst nicht«, gab Merle zu. Und je länger sie mit Jakob darüber sprach, desto mehr wurde ihr bewusst, dass sie ihr Ziel tatsächlich nicht kannte. »Aufgrund der Beschreibungen und einiger anderer Angaben habe ich den Eindruck, dass der Geschichte ein wahrer Kern zugrundeliegt. Ich habe keine Ahnung von solchen alten Texten, aber ich habe mal irgendwo gelesen, dass man zu verschiedenen Epochen unterschiedlich erzählt hat. Bilder und Metaphern hatten eine andere Bedeutung, man konnte manche Dinge nicht beim Namen nennen und hat eine Art Code benutzt und derlei Dinge.«
»Das ist grundsätzlich richtig.«
»Wenn du dir den Text ansiehst, erkennst du unter Umständen, ob dem eine bestimmte Symbolik zugrundeliegt. Vielleicht kannst du den Aberglauben aussortieren.« Merle lächelte unschlüssig. »Vielleicht steckt nichts dahinter. Ganz sicher kein großer Topf Gold am Ende des Regenbogens. Aber immerhin geht es um einen Vorfahren, da bin ich relativ sicher. Vielleicht ist es sogar der Namensgeber unserer Familie: Hänssler.«
Sie verstummte und fragte sich, wie
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