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So finster, so kalt

So finster, so kalt

Titel: So finster, so kalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Menschig
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traurigen Gedanken rund um Trennung, Tod und Veränderung. Noch am Vormittag hatte sie sich beim Durchblättern der Prozessunterlagen sogar Michael zurückgewünscht. Immer wenn sie dort auf seine Handschrift stieß, hatte sie an die guten Momente an seiner Seite gedacht und sich gewünscht, er möge anrufen und sie von ihren trüben Gedanken abbringen. Doch dann war ihr wieder eingefallen, dass er sich nie großartig um ihre Belange geschert hatte. Für ihn war es stets wichtiger gewesen, selbst angemessen bewundert zu werden.
    Jakob war anders. Er hielt ihr die Tür auf und nahm ihr den Mantel ab. Tugenden, die als altmodisch gelten mochten, die Merle aber immer geschätzt hatte. Die Unterhaltung beim Essen plätscherte angenehm mit belanglosem Small Talk dahin. Merle genoss es, einfach nur zuzuhören. Normalerweise war sie diejenige mit dem höheren Redeanteil. Aber heute war sie müde, hatte in den letzten Wochen wieder einmal entsetzlich wenig vom Weltgeschehen mitbekommen, und so wurde ihre Müdigkeit mithilfe des Weines zu einer angenehmen Trägheit, durch die Jakob Wolffs Worte wie eine sanfte Klaviermusik plätscherten. Er war zufällig in Hamburg, hatte einem guten Freund beim Umzug geholfen. Und er war erst vor kurzem von einer vierwöchigen Italien-Rundreise zurückgekehrt.
    »Deshalb bist du so braun gebrannt«, stellte sie fest.
    »Das ist leider nur T-Shirt-Bräune. Wie haben ein paar Tage in der Toskana am Strand verbracht. Es war mehr ein Bildungsurlaub, aber ich stehe dazu.« Er legte den Kopf schief und grinste ein wenig provozierend, als wollte er herausfinden, ob sie jemand war, der vierzehn Tage tatenlos am Strand verbringen konnte.
    Sie prostete ihm lächelnd zu, und sie sahen sich wieder in die Augen, ganz wie es sich gehörte. Für Merle war das ein uraltes Spiel, das vor so vielen Jahren beim ersten Bier in der Pubertät begonnen hatte. Und Jakob war es ganz offensichtlich ebenso vertraut.
    Sein freches Lächeln erinnerte sie an George Clooney. Jakob hatte die gleichen dichten Augenbrauen und eine ähnliche Kinnpartie. Genau wie der Schauspieler konnte er zunächst die Stirn in Falten legen, dann den Kopf ein wenig neigen und schließlich breit grinsen, als hätte er gerade den Coup seines Lebens ausgeheckt. Merle hätte am liebsten den ganzen Abend einfach nur dagesessen, den Kopf auf beide Hände gestützt und ihm dabei zugesehen.
    Zum Glück grinste Jakob häufig, während er ausführlich und interessant weitererzählte. Merle registrierte, dass er keine Frau erwähnte. Seine Begleitung waren zwei Freunde gewesen, zu denen sich eine Zeitlang ein vierter gesellt hatte. Sie versuchte herauszuhören, ob es eine engere Beziehung zwischen Jakob und einem der Männer gab, aber sofern das zutraf, ließ er nichts davon durchblicken. Das konnte natürlich auch Vorsicht sein. In ihrer Generation gab es noch immer Homosexuelle, die keinen Wert darauf legten, sich bei der erstbesten Gelegenheit zu outen. Aber Moment, warum interessierte sie das überhaupt? Brauchte sie so dringend eine männliche Schulter, dass sie sich dem Erstbesten an den Hals warf, dem sie begegnete?
    Jakob flirtete nicht. Er war witzig, charmant und vor allem unverbindlich. Das änderte sich auch nicht, als sie in die Bar wechselten und einander in einer gemütlichen Ecke gegenübersaßen. Mit dem kleinen Abstelltisch als Barriere zwischen ihnen, so dass jede Anstandsdame ihre helle Freude gehabt hätte.
    Merle fühlte Ärger in sich aufsteigen, vermischt mit einem vagen Gefühl der Enttäuschung. Sie riss sich zusammen und entschied, den Abend bald zu beenden. Das hier war eine rein geschäftliche Angelegenheit, mehr nicht. Sie war müde. Klar denken konnte sie auch nicht mehr.
    Sie streckte sich und gähnte hinter vorgehaltener Hand. »Sei mir nicht böse, aber ich möchte langsam nach Hause. Ich hatte extrem anstrengende Tage.«
    »Klar, natürlich. Unser Treffen war ja überhaupt nicht geplant. Tut mir leid, wenn ich dich aufgehalten habe. Ich bewundere euch Frauen sowieso immer, wie ihr es so lange in Nylonstrümpfen aushaltet.«
    Zum ersten Mal glaubte Merle, eine anzügliche Note in seinem Grinsen zu entdecken.
    Sie stand lachend auf. »Man gewöhnt sich dran.«
    »Ich bestimmt nicht. Mir reicht meine Erfahrung mit diesen kratzigen Wolldingern aus meiner Kindheit.« Wieder ließ Jakob die Möglichkeit zum Flirt verstreichen.
    Merle schüttelte ungläubig den Kopf. Er war schlagfertig genug und ganz bestimmt nicht so

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