So finster, so kalt
oft sie in den letzten Sekunden »vielleicht« gesagt hatte. Wieder ärgerte sie sich über ihr unkonzentriertes Gerede. Sofort ärgerte sie sich darüber, dass sie sich ärgerte. Sie war doch niemandem Rechenschaft schuldig, schon gar nicht diesem Fremden! Das lag nur daran, dass sie so übermüdet war.
Jakob nickte nicht gerade zuversichtlich. »Ich kann es versuchen. Ich werde diesen Text mit anderen zeitgenössischen vergleichen und ihn auf populäre Überzeugungen in der Gegend hin untersuchen. Der Glaube an Dämonen oder vom Teufel Besessene war sicherlich nichts Besonderes. Aber was den endgültigen Wahrheitsgehalt deiner Geschichte anbelangt, bin ich skeptisch. Tut mir leid.« Er zog die Augenbrauen hoch, als erwarte er Merles Zustimmung. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, und eine kurze unangenehme Stille entstand.
Merle bemerkte, dass sie mit den Fingern an ihrem rechten Ohrring herumspielte, und senkte hastig die Hand. Sie fragte sich, ob Jakob sie für völlig bescheuert hielt und nur zu höflich war, das auch zu sagen. Insgeheim hatte sie ein schlechtes Gewissen, ihn mit ihren albernen Angelegenheiten zu belästigen, ohne sie überhaupt klar benennen zu können. »Vielen Dank für deine Mühe«, stammelte sie schließlich. »Du kannst mir die Recherche selbstverständlich in Rechnung stellen.«
»Nein, kommt nicht in Frage.« Jakob schüttelte entschieden den Kopf. »Ich sehe das als allgemeine Forschung und werde das während meiner Arbeitszeit machen. Es ist nicht gesagt, dass ich nichts herausfinde, das am Ende für mich interessant ist. Ich möchte dich lediglich bitten, einen wissenschaftlichen Artikel darüber schreiben zu dürfen, wenn sich etwas aus der Sache ergibt.«
»Das wäre kein Problem. Was kann das denn sein, was sich da ergibt?«
Jakob grinste. »Wer weiß, vielleicht habe ich doch den Ursprungstext vor mir, auf dem das Märchen von Hänsel und Gretel basiert. Wenn ich das fundiert belegen könnte, wäre das in unseren Kreisen schon eine kleine Sensation.«
»Wirklich?«
»Wirklich.« Jakob lachte fröhlich, und Merle bemerkte die vielen tiefen Lachfalten um seine Mundwinkel und Augen.
Sie lächelte breit zurück.
»In den Sechzigern gab es zum Beispiel eine parodistische Ursprungsfassung von
Hänsel und Gretel,
die manche für echt hielten. Der Autor hieß Traxler. Er beschrieb den Fund eines Archäologen, der die halbverkohlte Leiche einer Bäckersfrau und ein altes Lebkuchenrezept entdeckt hatte. Dabei soll die Frau von einem Geschwisterpaar aus Nürnberg umgebracht worden sein, das hinter dem Rezept her war. Es soll ein paar Wellen geschlagen haben, bis klar war, dass es sich um eine Parodie handelte.« Jakob grinste entschuldigend. »Es war etwas vor meiner Zeit. Was damals in Fachkreisen los war, kann ich natürlich nicht sagen. Ein paar sind jedenfalls drauf reingefallen. Zugegeben, es war gut gemacht.« Er versuchte es mit einer bedauernden Miene, doch aus seinen Augen blitzte die Schadenfreude. Es dauerte nur einen kleinen Augenblick, bis sie beide zu lachen begannen. Ein befreiendes Gefühl, einfach mal albern zu sein, bemerkte Merle.
Eher zufällig bemerkte sie, dass Jakob sie nun intensiv musterte. Unwillkürlich zupfte sie die Schöße ihres Blazers ein wenig zusammen, und als sie wieder aufblickte, lag in Wolffs Blick nur noch argloses Interesse. Hatte sie sich getäuscht?
Merle räusperte sich. Ihr war eine Idee gekommen. »Wenn du mir schon kein Honorar in Rechnung stellen willst, kann ich dich dann heute Abend wenigstens zum Essen einladen?«
Jakob wirkte erfreut. »Sehr gern. Ich habe nichts vor und bin erst morgen Nachmittag noch einmal verabredet, bevor ich wieder nach Freiburg fahre.« Sofern er von ihrem direkten Vorgehen überrascht war, ließ er sich das nicht anmerken. »Außerdem hätte ich sowieso nicht gewusst, wo ich hier etwas Vernünftiges zu essen finden.«
Natürlich bestand er darauf, den Kaffee zu bezahlen, und sie verließen das Hotel. Die Luft war regenfeucht, und Merle entschied sich daher für das
Il Gaucho,
eine Tapas-Bar am Gänsemarkt. Sie hoffte, dass es gehoben und nicht allzu protzig auf Jakob wirkte.
Dr. Jakob Wolff war zweifellos ein Begleiter, mit dem man sich blicken lassen konnte, und Merle war froh, einen Abend in Gesellschaft zu verbringen. Sie konnte nicht gut alleine sein, und gerade jetzt hielt Wolffs Gegenwart sie davon ab, unentwegt das Handy zu kontrollieren, um zu sehen, ob ihr Vater angerufen hatte. Oder von
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