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So finster, so kalt

So finster, so kalt

Titel: So finster, so kalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Menschig
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sicher gewesen, dass es kaum ein Märchen gab, von dem er nicht wenigstens gehört hatte. Nachdenklich fuhr er mit dem Daumen die Nase des Wolfes entlang, der hinter einem Baum auf das Mädchen mit dem Korb lauerte. Seine eigene Großmutter hatte einmal behauptet, ihr Nachname käme von einem Vorfahren, der sich besonders grimmig und ungebärdig benommen hatte. Jakob lächelte versonnen. Ob das nun stimmte oder nicht, der Wolf war sein heimliches Wappentier. Sie beide jagten. Doch Jakob interessierten weder Körbe mit Wein und Kuchen noch rote Kappen. Das Einzige, was ihn antrieb, war Merle.
    Mit einiger Bitterkeit erinnerte er sich an ihre Worte vom gestrigen Sonntagvormittag, mit denen sie ihm eröffnet hatte, dass er nun doch besser nach Hause fahren solle. Im Gegensatz zum ersten Mal, als sie etwas Ähnliches gesagt hatte, hatte sie es ernst gemeint. Es folgten die üblichen Floskeln: Sie brauche Zeit für sich, müsse sich über alles klarwerden, müsse sich erst ordnen, wenn es etwas Ernstes sein sollte, und so weiter. Sie wollte am Wochenende zu ihm nach Freiburg kommen. Bis dahin, so behauptete sie, brauche sie Abstand.
    Jakob knurrte mürrisch und wandte sich dem Pfad zu, der sich hinter der Kiste kaum sichtbar in den Wald schlängelte. Während er tiefhängende Äste und Brombeerranken zur Seite bog, beherrschte Merle seine Gedanken. Sie hatte noch gar nichts begriffen. Aber er würde ihr schon klarmachen, dass sie ihn so nicht behandeln konnte.
    So gesehen war es gar nicht so übel, zwischendurch eine Wanderung durch den Hochschwarzwald einzulegen und den Ort des Geschehens einmal genauer zu untersuchen. Vielleicht brachte ihn das sogar wirklich weiter. Allerdings hatte er nicht so dichtes Unterholz erwartet. Wie hatte Merles Großmutter sich denn vom Dorf aus hier durchgeschlagen? Ob er etwas übersehen hatte?
    Jakob drehte sich um und überlegte, ob er zurückgehen sollte. Dann runzelte er verblüfft die Stirn. Er war kaum zehn Schritte vom Waldweg entfernt, dabei hätte er schwören können, bereits dreißig oder mehr Meter gelaufen zu sein. Um sich herum konnte er nur dichtes Unterholz entdecken. Der Pfad war zwar überwuchert, aber deutlich sichtbar unter seinen Füßen zu erkennen. Mit einem ergebenen Kopfschütteln rückte er den Rucksack zurecht und wandte sich wieder dem Pfad zu. Das war ganz sicher nicht der richtige Weg, aber was sollte er seine Zeit damit vertrödeln, noch weiter zu suchen? Die Vorratskiste war der einzige Hinweis, den er auf den Standort von Merles Häuschen hatte. Die Alternative wäre, zurück ins Dorf zu gehen und nach dem redseligen Mann zu suchen, damit dieser ihm den Weg über den Dreherhof erklärte.
    Mühsam arbeitete Jakob sich durch Spinnweben und Ranken weiter. Dann stolperte er unvermittelt. Er hatte einen armdicken Strang aus einem Dutzend verhedderter Brombeerranken auf dem Boden übersehen und konnte gerade noch verhindern, der Länge nach hinzuschlagen. Stattdessen riss er sich den Saum seiner Jeans auf. Wenigstens hatte er knöchelhohe Wanderschuhe an, ansonsten hätte er jetzt vermutlich tiefe Striemen am Fußgelenk. Er stapfte gereizt weiter.
    Moment, waren das seine eigenen Fußabdrücke? Er ging in die Hocke und betrachtete den schwarzen Schlamm. Es waren eindeutig dieselben Sohlen wie seine. Aber das ergab gar keinen Sinn!
    Jakob stand auf und drehte sich einmal um die eigene Achse. Wie hatte er es geschafft, sich auf fünfzig Metern Wegstrecke zu verirren? Wo war der Pfad? Der einzige Hinweis waren ein paar abgebrochene Äste, an denen er entlanggeschrammt war. Wütend fluchte er und entschied sich, seine Spuren zurückzuverfolgen. Es hatte keinen Sinn, in diesem Gestrüpp weiterzusuchen.
    »Was mache ich hier überhaupt? Ich und meine gottverdammte Neugier!«, stieß er mürrisch hervor und schlug mit der flachen Hand gegen einen Baumstamm. »Tja, in einem Märchen wäre das alles einfach. Ich könnte ja nach dem Weg fragen
: Merle, Merle, mein Mäuschen, zeig mir den Weg zu deinem Häuschen!
« Er schüttelte grimmig lachend den Kopf über sich und war froh, dass ihn niemand hören konnte. Orientierungslos lief er ein paar Schritte, und völlig unvermittelt lichtete sich der Wald.
    Jakob vergaß seinen Missmut und seinen Sarkasmus. Das Häuschen schlug ihn ganz in seinen Bann. Genau so hatte er es sich vorgestellt. Gerade, als er die Wiese betreten wollte, übersah er einen dicken Ast und stieß mit dem Kopf dagegen. Mit einem Knirschen, das er mehr

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