So finster, so kalt
Lust daran verlieren würde, sein halbwissenschaftliches Gequatsche fortzuführen. »Das gibt noch keinen Hinweis auf keltische Elemente«, brummte er nur. Wie wurde er den Kerl bloß unauffällig wieder los?
»Nein, noch nicht. Aber ich habe eine unbekannte Quelle gefunden. Wenn ich ehrlich bin, war es sogar Mago Hänssler, die diesem neu gefundenen Schriftstück diese Bedeutung zugemessen hat.«
Jakob schwieg, merkte jedoch auf. War das doch eine Spur?
»Sie hat ein Schriftstück eines ihrer Vorfahren analysieren lassen. Darin wird beschrieben, wie ein Mädchen einen Jungen in den Wald lockt, bis er anschließend nicht mehr nach Hause findet. Das Interessante dabei ist, dass der Junge eine Spur aus Brotkrumen legt, die jedoch von Raben aufgefressen wird. Außerdem werden an mehreren Stellen Eichen erwähnt, während in anderen Quellen schlicht von Bäumen die Rede ist. Vielleicht wissen Sie bereits, dass sowohl Rabenvögel als auch Eichen in der keltischen Mythologie eine große Rolle spielen.« Der Möchtegernforscher zwinkerte Jakob verschwörerisch zu. »Eigentlich fehlt nur noch die Erwähnung einer Mistel.«
Jakob bemühte sich um eine interessierte Miene, während er innerlich den Kopf schüttelte. Das war alles, was der Mann an Grundlage für seine Theorie zu bieten hatte? In seinen Ohren jedenfalls klang das eher, als hätte der Mann zu viele AsterixComics gelesen. »Kennen Sie den Verfasser dieses Schriftstückes, das Sie vorhin erwähnt haben? Ist er glaubwürdig?«
»Nun, die Quelle ist vom Anfang des siebzehnten Jahrhunderts. Verfasst hat sie ein Mönch im Kloster zu Thierenbach. Und der ist demnach so glaubwürdig, wie nur ein Mann Gottes sein kann.«
Was nach Jakobs Empfinden eher ein Argument gegen die Seriosität der Quelle war. Selbst wenn die damaligen Mönche ihre Aufgaben ernst genommen hatten, hatten sie sich kaum von den Einflüssen ihres eigenen Glaubens frei machen können. Aber im Grunde war das jetzt und hier nicht wichtig. Ihm reichte es nun endgültig.
Sie waren mittlerweile am Dorfrand angekommen. Vor ihnen führte ein breiter Forstweg bergan in den Wald. Er war mit einer rot-weiß gestrichenen Schranke abgesperrt, deren Farbe bereits abblätterte.
»Ist das der Weg?«
»Das ist er. Nur der Förster und mehrere Pächter der Waldparzellen in diesem Gebiet haben einen Schlüssel für die Schranke. Aber der Boden ist ohnedies zu aufgeweicht, um hinaufzufahren. Hier hat es in den letzten Tagen stark geregnet.«
»Herzlichen Dank«, beeilte sich Jakob zu sagen, bevor er einen weiteren Exkurs über das Wetter über sich ergehen lassen musste. »Dann werde ich ab hier allein mein Glück versuchen.«
»Ungefähr nach zwanzig Minuten sehen Sie auf der rechten Seite einen etwa einen Meter hohen Holzkasten. Dahinter geht ein Trampelpfad gut fünfzig Meter in den Wald hinein und zum Haus. Es gibt noch einen einfacheren Weg über den Dreherhof, aber dann müssten Sie komplett um das Dorf und den Fahrtweg in Richtung
Güldene Höhe
nehmen. Das ist das Ausflugslokal dort oben auf dem Hügel. Aber ich sehe ja, Sie sind gut zu Fuß!«
Jakob bedankte und verabschiedete sich. Dann ging er um die Schranke herum und den Weg hinauf. Es war ein schöner lauer Septembernachmittag, und der Herbst hielt sich in den tiefen Schatten der Nadelbäume noch zurück. Der Boden unter Jakobs Füßen federte weich und angenehm, lediglich die breite Traktorspur erinnerte ihn daran, dass er auf einem Forstweg lief.
Endlich sah er in einiger Entfernung den Holzkasten, den der Mann ihm als Hinweis auf den Abzweig zum Haus beschrieben hatte. Als Jakob näher kam, staunte er nicht schlecht. Der Kasten war eine etwa hüfthohe, im Boden verankerte Box, maß etwa einen halben Meter im Quadrat und hatte vorne eine Tür, die durch einen Haken verschlossen wurde. Unter dem Dach des Kastens war eine geschützte Nische, in die man Post oder Zeitungen legen oder sie als Vogelhäuschen nutzen konnte. Vermutlich hatten Merles Vorfahren in diesem Kasten Gegenstände deponiert, die vom Förster oder anderen mit ins Dorf hinuntergenommen werden konnten und umgekehrt. Jakob umrundete staunend die Holzsäule. Was ihn faszinierte, war nicht ihr Zweck, sondern ihr Äußeres. Alle vier Seiten waren wie ein alter Altarschrein mit Szenen aus einzelnen Märchen verziert. Alle vier Märchen spielten im Wald, und sehr zu seiner eigenen Verwunderung konnte Jakob nur
Rotkäppchen
sowie
Hänsel und Gretel
zuordnen. Dabei war er sich bisher
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