So finster, so kalt
Touristensaison, sofort auffielen. Als hätte er mit seinem Lächeln bewiesen, dass er nichts Böses im Schilde führte, drehte der Mann nun ab und kam auf ihn zu. »Suchen Sie etwas? Kann ich Ihnen helfen?«, fragte er.
»Ja, vielleicht, tatsächlich.« Jakob beugte sich in sein Auto, zog den Rucksack hervor und schwang ihn über seine Schulter. »Ich suche das Haus von Margarete Hänssler. Ich bin ein Freund von Merle.«
»Soso. Was wollen Sie denn da?« Der Einheimische zupfte sich das Revers seines Anzuges zurecht. »Sie wissen, dass …«
»… Frau Hänssler verstorben ist. Ja, das ist mir bekannt«, half Jakob seinem Gegenüber freundlich weiter.
Das Misstrauen des Mannes vibrierte fast sichtbar in der Luft.
»Ich möchte mir das Haus nur von außen ansehen. Merle hat mir so viel davon erzählt, da bin ich neugierig geworden. Sie kommt morgen selbst her, aber da bin ich schon wieder beruflich eingebunden.«
»Ich verstehe.« Der Mann spähte über Jakobs Schulter auf das Nummernschild mit dem Freiburger Kennzeichen, als könnte er an diesem erkennen, welche beruflichen Verpflichtungen gemeint waren. »Wie geht es Merle? Hat sie ihren Vater erreicht?«, fragte er schließlich.
»Ja. Er hat seinen Aufenthalt in Kanada abgebrochen und ist auf dem Rückweg.«
Offenbar hatte er mit diesen persönlichen Informationen seine Vertrauenswürdigkeit unter Beweis gestellt, denn der Mann nickte zufrieden und winkte ihm dann, ihm zum Ende des Parkplatzes in eine Gasse zu folgen. Rasch schloss Jakob zu ihm auf.
»Was interessiert Sie denn so an dem Haus?«
»Ach, das ist nur ein kleiner Spleen von mir.« Jakob lachte. »Ich suche nach Orten, die Schauplatz von Märchen oder zumindest die Vorlage für ein Märchen gewesen sein könnten.«
»Äußerst interessant!«, stellte der Einheimische erfreut fest. »Kennen Sie die Sage der Wilden Frau von Steinberg?«
»Nein, noch nie gehört.« Natürlich kannte Jakob sie. Aber ihm stand nicht der Sinn nach weiteren lästigen Fragen. Stattdessen versuchte er, den Mann zum Reden zu bringen. »Allerdings sind Sagen und Märchen nicht das Gleiche«, fügte er hinzu. So ganz konnte er nicht aus seiner Haut.
Der Einheimische hob beschwichtigend die Hand. »Das ist mir selbstverständlich bekannt. Sagen haben einen Wahrheitsanspruch. Es heißt demnach, dass es unsere Wilde Frau wirklich gegeben haben soll.« Mit stolzer Miene ging er langsam die Gasse entlang und unterstrich seine Worte mit Gesten, die die Ernsthaftigkeit in seiner Stimme spiegelten. »Ich habe mich eingehend damit beschäftigt und werde bald ein heimatkundliches Buch darüber veröffentlichen. Wenn die Sage auf einem wahren Geschehen basiert, liegt dieses vermutlich mehr als zweitausend Jahre zurück und wäre damit keltischen Ursprungs. Es wurde im Folgenden durch mündliche Überlieferung über Jahrhunderte ausgeschmückt.«
»Tatsächlich?« Jetzt horchte Jakob doch auf. Dass es sich um eine so alte Sage handeln sollte, war ihm neu.
»Es ist nur das bisherige Ergebnis meiner bescheidenen Forschung«, erklärte der Mann, und Jakob vermutete langsam, dass es sich bei ihm um den Pfarrer oder einen anderen Würdenträger des Dorfes handelte. Genauer interessierte es ihn nicht. Er wollte viel lieber das Haus von Merles Großmutter erreichen.
Der Mann fuhr unbeeindruckt fort: »Der Sage nach gab es ein weibliches Wesen, eine junge Frau, die durch die Wälder hier um Steinberg streifte. Sie soll kleine Kinder entführt und gefressen haben. In einer anderen Quelle ist die Rede davon, dass sie junge Männer in den Wald lockte und ihnen eine wundervolle Nacht bescherte, ehe sie ihnen das Leben aussaugte und sie sterbend zurückließ.«
»Die klassische Beschreibung des Kinderschrecks, wie er hierzulande etwa durch den Nachtkrapp oder eine Baumnymphe beziehungsweise Dryade beschrieben wird. Letztere ist anbei vermutlich römischen Ursprungs«, fiel Jakob ihm ins Wort, um seine Ausführungen abzukürzen. Langsam wurde ihm das Gespräch zu weitschweifig.
»Richtig«, stimmte der Einheimische zu. »Das könnte ein Anzeichen dafür sein, dass selbst die Römer diese Sage bereits kannten.«
Das war Unsinn. Es konnte genauso gut sein, dass irgendjemand im achtzehnten oder neunzehnten Jahrhundert – als es Mode wurde, sich mit solchen Stoffen zu beschäftigen – auf die Sage gestoßen war und die Wilde Frau im Nachhinein Dryade genannt hatte. Doch Jakob widersprach nicht. So hoffte er darauf, dass der Mann die
Weitere Kostenlose Bücher