So finster, so kalt
spürte als hörte, biss er sich die Zunge blutig. Fluchend spuckte er aus. Für einen Moment fragte er sich, ob Merles Ex mit seinem Vorschlag, das Haus zu sprengen, nicht doch recht gehabt hatte. Das hier war ein gottverlassener Winkel der Welt.
Auf der Hut vor weiteren Überraschungen, wandte Jakob sich zunächst den Apfelbäumen zu und spähte über den Zaun in den sogenannten Verbotenen Garten. Doch er entdeckte nichts Interessantes, nur eine knorrige halbtote Eiche und Gras. Danach näherte er sich der Haustür, die er ungefähr in der Mitte der langen Seite entdeckte. Merle hatte erklärt, dass das Haus früher die meiste Zeit unverschlossen gewesen war und sie diesen Jugendfreund – wie hieß er noch? Björn? – angewiesen hatte, es weiterhin so zu halten. Im Haus gab es nichts von Wert, das sich mitzunehmen lohnte, und laut Merle war in der Vergangenheit noch nie eingebrochen worden.
Jakob drückte die schmiedeeiserne Klinke hinunter und rüttelte. Es war abgeschlossen. Wäre ja auch zu schön gewesen. Daher ging er zu einem der beiden Seitenfenster und spähte hinein.
Wie Merle es beschrieben hatte, glich das Innere einer altertümlichen Puppenstube. Die Esse war so groß, dass man problemlos ein halbes Schwein darin rösten konnte. Möglicherweise hatten die Bewohner des Hauses das früher sogar getan. Jedenfalls sprach grundsätzlich nichts dagegen, dass Hans die alte Frau in ebenjene Esse hineingestoßen hatte und diese verbrannt war. Bis auf die nicht ganz unwesentliche Tatsache, dass Menschen nicht so einfach verbrannten. Gesetzt den Fall, die alte Geschichte stimmte – was hatten sie dann mit der Brandleiche getan?
Da stand auch der Schaukelstuhl. Er bewegte sich sanft und gleichmäßig hin und her. Jakob nickte nachdenklich. Die Bewegung des leeren Stuhles wunderte ihn in diesem Augenblick überhaupt nicht. Alles war vielmehr genauso, wie er erwartet hatte. Er blickte sich um, um zu sehen, ob er nicht doch einen Weg hinein fand, und …
»Was machen Sie da?«
Jakob wandte sich von dem Fenster ab und zwang sich zu einer freundlichen Miene. Das Auftauchen des Mannes, der ihn sicherlich von seinem Vorhaben abhalten wollte, passte ihm überhaupt nicht. »Ich bin ein Freund von Merle, und ich wollte mir das kleine Häuschen ansehen, von dem sie so viel erzählt hat.«
»
Ein
Freund oder
ihr
Freund?«
»Na ja,
ihr
Freund, hoffe ich zumindest.« Jakob lächelte schief. »Wer sind Sie?«
Der Fremde kam näher und gab ihm die Hand. Sein Blick blieb misstrauisch. »Björn Dreher. Ich passe auf das Anwesen auf, solange niemand von der Familie da ist. Ich habe ein paar tote Äste aus den Apfelbäumen geschnitten. Wo ist Merle? Weiß sie, dass Sie hier sind?«
Jakob entschied sich, die letzte Frage einfach zu überhören. »Ich bin aus Freiburg. Merle kommt morgen. Ich kann aus beruflichen Gründen nur heute kommen – danach würde es länger dauern, bis ich wieder hier herauskommen könnte.«
»Freiburg? Sie meinen Hamburg.«
»Nein, ich bin aus Freiburg. Ich lebe seit zwanzig Jahren dort.«
»Sekunde mal. Dann sind Sie gar nicht dieser Michael?«
»Ob ich …? Nein, ach so.« Jakob schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Dachten Sie, dass sie zu ihm zurückgekehrt ist? Ich bin sozusagen der Nachfolger. Jakob Wolff.«
Björn wirkte aufrichtig erleichtert und lächelte endlich freundlich. »Dann sollte ich etwas unvoreingenommener sein. Es ist nur so, dass Merles Vater Theodor einiges über diesen Michael erzählt hat. Sagen wir mal: er mochte ihn nicht.«
»Der Typ muss ein ziemliches Arschloch sein. Soweit ich das beurteilen kann, hat er Merle nicht gut behandelt.«
Björn nickte knapp. »Ich denke, dann sind wir uns einig.«
Jakob deutete auf die Haustür. »Merle hat mir erklärt, dass das Haus die meiste Zeit über offen stünde, aber heute scheint abgeschlossen zu sein. Kann ich mir das Innere mal ansehen?«
»Aber ich habe doch gar nicht abgeschlossen«, murmelte Björn verwundert. »Ich kann verstehen, wenn Sie neugierig sind. Merle hängt sehr an dem Haus, sie hat sicherlich eine Menge Geschichten erzählt.«
Während er das sagte, zog er einen altertümlich verschnörkelten Schlüssel aus der Hosentasche, steckte ihn ins Schloss und ruckelte daran herum.
»Ja, besonders diese Horrorvariante von
Hänsel und Gretel
.« Jakob lachte. Insgeheim musste er zugeben, dass Merles Knusperhäuschen durchaus als Kulisse für einen Märchenfilm durchgehen konnte.
Björn fiel zustimmend
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