So finster, so kalt
setzen und loszufahren.
»Musst du wirklich heute Abend wieder zurück?«, fragte er. »Willst du nicht wenigstens bei uns übernachten?«
Merle schüttelte entschieden den Kopf. »Mich rufen wichtige geschäftliche Angelegenheiten.«
»Klingt gewaltig«, gab er trocken zurück.
Prompt ärgerte sie sich über sich selbst. Wie redete sie denn? »Ich bin Rechtsanwältin und Teilhaberin in einer Kanzlei. Vielleicht hast du von der Veruntreuung des Unternehmers Wilfried Frohn gehört. Ich vertrete ihn – ist eine ziemlich heikle Sache. Und der Mann ist nicht gerade ein Tugendknabe, obwohl der größte Teil der Anschuldigungen durch die Presse aufgebauscht wurde.«
»Ich habe darüber gelesen.« Jetzt nickte Björn ernst. »Machst du das ganz allein? Kein Wunder, dass du so abgekämpft aussiehst.«
»Nein, nicht allein.« Merle entschloss sich, die letzte Bemerkung zu übergehen. »Ich habe einen Mitarbeiter ausschließlich für diesen Fall und kann bei Bedarf auf weitere Kollegen zurückgreifen. Aber ich möchte es natürlich allein schaffen. Alles andere verbietet mein Ehrgeiz.«
»Klingt gewaltig«, wiederholte Björn. Dieses Mal klang es, als meinte er es ernst.
Er hatte ja keine Ahnung. Dieses Mandat hatte sie an ihre moralischen Grenzen gebracht. Sie musste einen Mistkerl verteidigen, der seine Teilhaber um riesige Geldsummen betrogen hatte. Wenn es nach ihr ginge, sollte er dafür ruhig bestraft werden. Leider würde das bedeuten, dass fast zweihundert Arbeitnehmer auf der Straße landeten. Nur mit dieser inneren Rechtfertigung konnte Merle gegen ihr eigenes Unrechtsbewusstsein ankämpfen.
»Wie geht es dir sonst?«, erkundigte sich Björn.
Es war eine harmlose Frage, nur der übliche Small Talk. Was man halt so fragte, wenn man sich einmal gut gekannt, aber lange nicht gesehen hatte. Merle jedoch fühlte sich durch seine Worte unerwartet bedroht. Sie sagten ihr, dass ihr altes Leben im Begriff war, wie ein Kartenhaus einzustürzen. Und die erste Karte hatte sie einige Stunden nach Björns gestrigem Anruf selbst aus dem fragilen Gebäude gezupft.
»Großartig«, erwiderte sie mit vorgetäuschter Lässigkeit. »Ich habe mich ganz frisch von meinem Freund getrennt.«
Statt einer Antwort warf Björn ihr einen schwer zu deutenden Seitenblick zu.
Merle holte tief Luft. »Ich meine das ernst. Es ist wirklich besser so. Es hat schon länger nicht mehr gepasst.«
»Dein Vater hat mir von deinem Michael erzählt«, meinte Björn hörbar vorsichtig, was Merle bitter auflachen ließ. »Bestimmt nichts Gutes.«
»Eher nicht.«
Merle dachte an den Verlauf des vorangegangenen Nachmittags. Nachdem sie mit Björn gesprochen hatte, war sie in Michaels Büro gegangen, in der vagen Hoffnung, dass er sie trösten würde. Stattdessen hatte er ihr vorgeworfen, sie hätte soeben mit ihrem gemeinsamen Grundsatz gebrochen, Privates und Berufliches zu trennen. Er jedenfalls hätte weiß Gott Besseres zu tun, als Hunderte Kilometer zu einer Beerdigung anzureisen.
»Es wäre besser gewesen, wenn Papa auch mit mir mehr darüber gesprochen hätte«, murmelte Merle gegen die Seitenscheibe. Sie sprach eher zu sich als zu Björn, der sich auf den Verkehr konzentrierte. »Dann hätte ich vielleicht früher erkannt, dass Michael die Arroganz in Person ist. Wenn es bei ihm und mir gekriselt hat, hat Papa immer nur gemeint: ›Wer bin ich, dass ich mich in deine Beziehung einmische?‹ Im Nachhinein wundere ich mich selbst, wie ich es fast sechs Jahre mit Michael ausgehalten habe.«
Björn brummte unbestimmt. Merle war froh, dass er nichts mehr dazu sagte und sie einträchtig schwiegen, bis er den Wagen auf den Parkplatz neben der kleinen Kirche steuerte.
Es dauerte noch knapp zwei Stunden bis zur Beerdigung, doch am Gemeindesaal liefen schon jetzt ältere Frauen mit Kaffeegeschirr und Thermoskannen hinein und hinaus. Das wunderte Merle nicht. Die Hänsslers waren eine alteingesessene Familie. So ziemlich das gesamte Dorf würde zu Omis Beerdigung seine Aufwartung machen.
»Warst du schon in der Wohnung deines Vaters, seit er wieder hergezogen ist?«
»Nein, das hat sich bisher nicht ergeben.« Energisch verdrängte Merle den Anflug des schlechten Gewissens. Mindestens zwei Jahre war sie nicht mehr hier gewesen und hatte sogar kaum an Steinberg gedacht.
»Hast du einen Schlüssel zur Wohnung deines Vaters?«, riss Björn sie aus ihren Gedanken. »Sonst lasse ich dich rein, damit du dich frisch machen kannst. Hier ist ohnehin
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