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So finster, so kalt

So finster, so kalt

Titel: So finster, so kalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Menschig
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folgen. Eine Spur aus Äpfeln. War das ein schlechter Scherz? Dann fiel ihr ein, was Björn über die Lebkuchenspur erzählt hatte.
    Mit einem Schlag waren Merles Sinne hellwach und ganz auf ihre Umgebung gerichtet. War hier jemand? Oder besser gesagt, war derjenige, der die Spur gelegt hatte, noch da? Doch so gründlich sie sich umsah und auf Ungewöhnliches abseits der fernen Windgeräusche lauschte – sie entdeckte nichts und niemanden. Einen Moment lang glaubte sie, beobachtet zu werden. Es war nicht das Gefühl, als lauere irgendwo im Unterholz ein heimlicher Spanner; eher erschien es ihr wie die beruhigende Anwesenheit eines Lehrers oder Mentors, der ihr über die Schulter schaute, während sie eine schwierige Aufgabe bewältigte. Doch auch dieses Gefühl ging vorüber.
    Merle starrte nachdenklich auf die Apfelspur und spielte dabei an ihrem Ohrring. Das war doch nicht normal. Andererseits hatte wer-auch-immer diese Apfelspur aus einem guten Grund gelegt. Wenn sie vorsichtig war, sprach nichts dagegen, der Spur erst einmal bis zum Ende zu folgen. Was konnte schon am Ende einer Apfelspur lauern? Eine Kinder entführende Vogelscheuche vielleicht? Oder Aschenputtels Stiefmutter? Sie lachte unsicher. Dann gab sie sich einen Ruck und marschierte los.
    Die Äpfel waren manchmal in dem hohen Gras schwer auszumachen, führten jedoch eindeutig bis in den Obstgarten. Merle grinste und fragte sich, ob es wandernde Äpfel waren, die zu ihren Bäumen zurückwollten. Als sie die Apfelbäume passiert hatte, blieb sie stehen und schaute sich um. Welcher Depp verwechselte hier eigentlich die ganzen Märchen? Äpfel waren doch eindeutig ein Thema aus
Schneewittchen
. Bei
Frau Holle
gab es einen Apfelbaum. In
Der Teufel mit den drei goldenen Haaren
kam außerdem ein Baum mit goldenen Äpfeln vor. Sie wusste das, weil es bis heute eines ihrer Lieblingsmärchen war. Früher hatte sie sich manchmal vorgestellt, dass ihr Vater sie gefunden und aufgezogen hatte und ihr eines Tages mitteilen würde, sie dürfe einen Prinzen heiraten. Prompt war der Gedanke an Jakob wieder da. Sie schob ihn energisch beiseite und ging weiter. Das hier waren schließlich keine goldenen Äpfel, sondern ganz normale rote und gelbe.
    Noch bevor sie sich dessen bewusst wurde, stand sie vor dem Tor des Verbotenen Gartens. Wie Björn gesagt hatte, war der Zaun tadellos in Schuss. Dahinter ging die Apfelspur weiter, vermutlich zu dem Baum oder zu etwas, das darunter lag. Ohne große Hoffnung drückte Merle die Klinke hinunter. Solange sie denken konnte, hatte der Weg in den Verbotenen Garten immer über den Zaun geführt.
    Erstaunlicherweise hakte das Tor nur kurz an einem wuchernden Grasbüschel und schwang dann leicht auf. Sie hielt kurz inne, doch eigentlich erstaunte es sie nicht. Schließlich hatte jemand gewollt, dass sie der Spur folgte. Da war es nur logisch, dass das Tor nicht verschlossen war.
    Merle ging weiter, lauschte aufmerksam in alle Richtungen und sah sich um. Die Apfelspur endete am Baum. Vor dem zerfurchten Stamm waren vier Äpfel zu einer kleinen Pyramide aufgehäuft. Sonst entdeckte sie nichts. Merle wurde nervös. Was sollte das Ganze? Sie nahm die Äpfel auf. Nichts geschah. Sie umrundete den Baum. Ronja hatte recht gehabt, da war kein Gesicht mehr in der Rinde zu erkennen. Insgesamt machte der Baum einen ungewöhnlichen Eindruck, irgendwie krank.
    Zum wievielten Mal sie sich gründlich umschaute, wusste sie nicht, doch jetzt langte es ihr. Brüsk wandte sie sich ab und wollte gerade in Richtung Tor davonstapfen, als sich ihr eine knochige Hand auf die Schulter legte.
    Sie kreischte auf und fuhr herum. Die Äpfel fielen aus ihren Händen. Panik kroch ihr durch die Brust und schnürte ihr den Hals zu. Das war schlimmer als in ihren Alpträumen.
    Dabei war es nur ein Ast, der sie gestreift hatte. Sie hatte nicht bemerkt, wie tief er hing.
    Merle blinzelte und versuchte, ihren Atem wieder zu beruhigen. Da war nichts, alles gut. Sie zwang sich, ganz normal durch das Tor zu gehen und es nicht allzu hastig wieder hinter sich zu schließen. Dann blieb sie noch einmal stehen und betrachtete von jenseits des Zaunes den Baum. Prompt fuhr ihr der nächste Schreck durch die Glieder. Stand da jemand und winkte?
    »Hallo? Ist da jemand?«, rief sie. Im gleichen Augenblick kam sie sich lächerlich vor. Es war nur ein Lichtreflex, ein Schattenspiel. Der Wind war recht kräftig und bewegte die immer noch dichte, grünbelaubte Blätterkrone der alten

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