So finster, so kalt
dass sein Junge doch Verrat beging, sobald er unter Gretas Bann geriet. So war es sicherer für ihn.
Jetzt hatte Johann den Waldrand erreicht. Greta bewegte sich langsam, wie ein tanzendes Blatt im Wind, und streckte ihm lockend die Hände entgegen. Hans konnte ihr Gesicht nicht erkennen, doch er ahnte ihr vielversprechendes süßes Lächeln.
Johann streckte die Hand aus. Etwas Rotes leuchtete auf. Hans schloss die Augen, um sie sofort wieder aufzureißen.
Greta nahm ihr Geschenk, biss in den Apfel – und fiel um. Aus den Augenwinkeln sah Hans noch, dass Johann neben ihr auf die Knie fiel, doch er kümmerte sich nicht weiter darum, was am Waldrand geschah, sondern stürmte nach draußen.
Schon von weitem hörte er Johann bitterlich weinen.
»Sie ist tot!«, rief er.
Das wäre zu schön, aber zu einfach,
dachte Hans bei sich.
Greta lag dort zwischen Farnwedeln im Gras und rührte sich nicht, während Johann ihre zarten Hände knetete. Hans zog den Jungen hoch, und glücklicherweise ließ dieser es mit sich geschehen und umklammerte stattdessen die Hüfte seines Vaters.
Das Mädchen sah wirklich bemitleidenswert aus, wie es so dalag. Hans betrachtete sie mit einer Mischung aus Neugierde, Abscheu und Entsetzen. Sie war in ein schneeweißes Gewand gehüllt. Hatte sie nicht einst ein zu kleines braunes Leinenkleid getragen? Der Körper mutete zerbrechlich an. War es wirklich dieses kleine Mädchen gewesen, das ihn über Jahre hinweg tyrannisiert hatte? Wer hatte sie zu dieser Bestie gemacht? War die alte Frau, der das Haus gehört hatte, vielleicht doch nicht ganz unschuldig daran gewesen? Märchen hatten immer ein gutes Ende. Was wäre, wenn er Greta ins Haus mitnehmen und gesund pflegen würde?
Hans strich Johann beruhigend über den Kopf und schob ihn ein wenig von sich, damit er sich bücken und Gretas zarten Körper aufheben konnte. Mühelos trug er sie auf die Lichtung.
Johann folgte ihm.
Als er fast an der Haustür angelangt war, fegte ein Windstoß über das Gras und knallte die Tür mit solch einer Wucht zu, dass der Rahmen erzitterte.
Hans blinzelte.
Dann kam er wieder zur Besinnung. Er blickte auf das Wesen in seinen Armen und erkannte, was sie war.
Er musste sich beeilen. Das Gift, das er von Rosalia erhalten und in den Apfel gespritzt hatte, konnte ein Pferd töten, doch bei ihr würde es nicht ewig anhalten.
»Vater, was tut Ihr da?«, schrie Johann auf.
»Ich werde sie in Sicherheit bringen.«
»Wird sie wieder gesund? Bitte!«
»Ja, Johann, sie wird wieder gesund.« Leider. Bis dahin musste er dafür sorgen, dass sie kein Unheil mehr anrichten konnte. Solange er lebte, solange Johann lebte oder irgendein anderer seiner Familie.
Sieben Tage und sieben Nächte waren vergangen, seit Hans Greta gefangen hatte. Er hatte sie in ihr Gefängnis gebracht. Es war eine alte Eiche, eine Seltenheit in dem von Nadelbäumen dominierten Wald. Doch Hans hatte über Jahre gelernt, den Wald und seine Bedürfnisse zu begreifen. Es gab Bäume, die man fällen konnte, und andere, die man stehen lassen musste. Alles richtete sich nach dem sich stetig wiederholenden Kreislauf des Lebens. Sogar ein Waldbrand gehörte ab und an dazu. Hans hatte gesehen, wie sich Flächen, die eine Zeitlang verbrannt und schwarz brachgelegen hatten, wieder erholten.
Ein Teil dieser Bäume war sein Handwerk, doch einige besondere Exemplare gehörten dem Wald allein. So wie die alte Eiche mit dem breiten Riss im Stamm. Dem Riss, der so breit war, dass man eine zarte Mädchengestalt hineinbetten konnte. Der Riss, der am nächsten Tag schon so weit geschrumpft war, dass die Gestalt nicht mehr hindurchpasste. Der Riss in dem Baum, der aussah wie der Baum auf dem Bild in seinem Haus.
Flehend und schimpfend hatte Greta ihre Hände hinausgestreckt, doch Hans blieb hart. Jeden Tag hatte er sie besucht. Tag um Tag wuchs der Spalt zusammen. Am dritten Tage hatte er gehofft, dass es so weit war, doch da war alles noch unverändert gewesen. Jetzt endlich, am siebten Tag hatte das Gefängnis Greta sicher eingeschlossen. Nur die Umrisse von Gretas Gesicht, die Züge wunderschön und tragisch erstarrt, waren noch zu erkennen. Wenn der Wind durch die Äste der Eiche fuhr, klang es wie das hohe Klagen eines Mädchens.
Eines fernen Tages würde sie wieder jemand oder etwas befreien. So wie sein Vater sie vermutlich vor vielen Jahren befreit hatte. Doch bis dahin hatte vielleicht jemand eine Möglichkeit gefunden, dieses Geschöpf in die
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