So finster, so kalt
Mutter der beiden anderen Kinder war. Obwohl sie einander bei ihrem letzten Treffen nicht besonders sympathisch gewesen waren, bedauerte sie die Frau aufrichtig. Noch während sie überlegte, was sie sagen könnte oder ob sie überhaupt zu der Gruppe gehen sollte, winkte Björn sie zu sich.
»Guten Morgen, Merle, hast du irgendwelche Neuigkeiten?«, begrüßte Björn sie.
Merle gab allen die Hand, bevor sie bedauernd die Schultern hob. »Nichts. Heute Nacht war um das Haus herum alles ruhig und friedlich.« Sie überlegte keine Sekunde, ob sie die Sache mit den Äpfeln erzählen sollte. Am Ende waren es sogar die Kinder vor ihrem Verschwinden gewesen, die die Spur gelegt hatten. Denn inzwischen fragte sich Merle, warum sie eigentlich davon ausgegangen war, dass die Äpfel in der Nacht gelegt worden waren. Nur weil am Morgen der Sack umgefallen war? Sie hatte am Vorabend einfach nicht darauf geachtet.
»Friedlich? Schön für dich«, keifte Nicole, bevor jemand anderes etwas sagen konnte. »Du hast keine Ahnung, wie es ist, eine Nacht durchzuwachen, weil die eigenen Kinder verschwunden sind. Hast du Kinder?«
Pfarrer Kupferschmidt und Björn hoben gleichzeitig beschwichtigend die Hände, doch Merle zuckte nicht zurück.
»Nein, habe ich nicht«, erklärte sie ruhig. »Aber ich möchte helfen. Gibt es etwas zu tun?« Sie kannte solche Reaktionen. Vor Gericht wurde sie immer wieder angefeindet – vom Staatsanwalt, von gegnerischen Rechtsanwälten, von Gegenklägern. Dann schaltete sie ihr Herz aus. Wie hätte sie es Nicole persönlich nehmen können? Sie kannten einander überhaupt nicht, und die Frau stand deutlich sichtbar unter Schock.
Doch Nicole sah das offensichtlich anders. »Helfen? Nach allem, was ihr angerichtet habt?«
»Nicole, bitte! Merle ist gestern erst angekommen. Was soll das?«, fuhr Björn dazwischen.
»Sie selbst hat das vielleicht nicht angerichtet, aber …« Ein Zeigefinger fuhr auf Merle los und bohrte sich in ihre Brust. »… deine Großmutter sehr wohl! Oder willst du bestreiten, dass sie die Kinder ständig mit Lebkuchen in den Wald gelockt hat?«
»Bitte was?«, fragte Merle völlig verdattert. Ein weiteres »Nicole!« von Björn fegte die Angesprochene mit einem Zornesschnauben beiseite: »Natürlich hat sie das! Kein Mensch lässt heutzutage seine Kinder allein im Wald herumlaufen. Aber mein Mann meinte, wir sollten uns unbedingt anpassen. Dabei weiß er genau, wie es war, als Luke das erste Mal verschwunden war. Und jetzt? Aber nein, ich musste mir ja ständig diese Leier anhören: ›In Steinberg passiert nichts, hier ist die Welt noch in Ordnung.‹ Ein Scheiß ist die Welt! Hier hausen gottverdammte Hexen in baufälligen Waldhütten und verführen kleine Kinder!«
»Meine Großmutter war weder eine Hexe, noch …«
»Wir wollen doch keinem mittelalterlichen Aberglauben aufsitzen, Frau Rötgen«, unterbrach der Pfarrer Merle mit einem entschuldigenden Lächeln und versuchte, Nicole am Arm zu packen und wegzuführen.
»Ach nein?« Nicole riss ihren Arm weg und trat zwei Schritte zurück. »Soll ich stattdessen zu einem antiken Gott beten? Ich sag Ihnen was: Wenn es Ihren Vater im Himmel gibt, warum lässt er so etwas zu? Wenn ich an Gott glauben soll, warum nicht an Hexen? Erklären Sie mir das mal!«
»Nicole, nimm Vernunft an. Niemand …«
»Wir wollen doch jetzt keine theologische Debatte …«
»Meine Oma ist tot! Hexe oder nicht, sie wird ganz sicher nichts mehr ausrichten, klar?«, stieß Merle zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Nicoles Angst ging ihr wider Willen an die Nieren und ließ sie den eigenen frischen Verlust stärker spüren als je zuvor. Sie war hier unter Fremden und damit angreifbar.
»Frau Rötgen, gleich kommen die Leute von der Hundestaffel zurück. Vielleicht haben die Neuigkeiten.« Endlich gelang es Pfarrer Kupferschmidt, Nicole am Arm zu packen und mit sich zu ziehen.
»Diese Großstadttusse soll sich einfach raushalten. Sorgen Sie dafür, dass sie verschwindet. Sie und diese gottverdammte Familie!«, hörte Merle Nicole hasserfüllt schimpfen, ehe sie dem Pfarrer notgedrungen folgte.
Merle und Björn standen einander verlegen gegenüber. Sein müder Blick und die hängenden Arme sprachen Bände. Jetzt erst bemerkte Merle, dass auch andere im Raum ihr verstohlene Blicke zuwarfen. Die meisten verhalten oder betont neutral, doch einige offen feindselig. Es waren genug Fremde im Raum, die sie nicht beachteten, weshalb es ihr
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