So fühlt sich Leben an (German Edition)
kommst du dazu, deine Mitschüler zu verdreschen? Wie kommst du dazu, deine Lehrerin anzupöbeln? Und dann die letzte große Frage: Wo hast du das bloß her? Jedes Mal war es dasselbe, und jedes Mal endete es damit, dass sie sich alle Hausaufgabenhefte zeigen ließ. Ich hatte zwar mit meiner eigenen doppelten Buchführung vorgesorgt. Ich hatte für jedes Fach mehrere Hefte angelegt, je eines, in dem die schreckliche Wahrheit stand, die restlichen für die gnädige Fiktion. Aber im Elternaktiv flog der ganze Schwindel ein ums andere Mal auf. Der größte anzunehmende olsenmäßige Reinfall.
Selbst meiner Mutter reichte es irgendwann. Sie war drauf und dran, mich zu schlagen, brachte es dann aber doch nicht über sich, verließ das Schlachtfeld und überließ mich meinem Vater. Ich habe ihn dafür gehasst. Jahrelang war mein Vater mein Feindbild– so wie er später mein Antrieb war. Wenn ich in späteren Jahren meine ganze Energie zusammengenommen habe, um meine Ziele zu erreichen, dann hauptsächlich seinetwegen. Jetzt erst recht, habe ich mir gesagt, dem werde ich’s zeigen. Es war ja immer mein Vater, dem ich beweisen wollte, dass ich was tauge.
Eine unselige Zeit. Trotz bei mir, Ratlosigkeit und Wut bei ihm. Ich fühlte mich durch ihn in die Enge getrieben, er fühlte sich durch mich in die Enge getrieben. Heute liebe ich meinen Vater, damals habe ich ihn verflucht. Aber heute verstehe ich auch unendlich viel mehr als damals. Ich verstehe seine Hilflosigkeit, die schon daher rührte, dass er keine Zeit für mich hatte. Er arbeitete ja im Schichtdienst, mal tags, mal nachts, wie es gerade kam. Ich habe ihn kaum gesehen, ich war auf mich allein gestellt, und immer, wenn er das Gefühl hatte, zu wenig für mich zu tun, mir nicht so beistehen zu können, wie es sich für einen Vater gehört, hat er mit dem Holzlatschen nachgeholfen. Hat mit militärischer Härte versucht, mir seine Disziplin, seine Zielstrebigkeit, seinen Wirklichkeitssinn in den Kopf zu hämmern.
Sehr viel später, in einer ganz anderen Zeit, kam es zu einer Unterhaltung zwischen uns beiden. Wir saßen auf seiner Terrasse, und er sagte zu mir: » Hagen, ich verstehe nicht, mit welchem Enthusiasmus du an deine Sachen rangehst. Ob du an der Tür stehst oder Texte schreibst oder Musik machst, alles geschieht bei dir mit der gleichen Begeisterung. Ist mir unbegreiflich. Ich stehe um fünf Uhr auf, fahre um sieben Uhr ins Büro, und wenn ich um fünfzehn Uhr Feierabend habe, weiß ich, was ich getan habe und was es mir bringt. Und du ackerst von morgens bis abends und haust zwölf, vierzehn Stunden lang wie ein Verrückter rein, ohne zu wissen, ob du je auf einen grünen Zweig kommst.«
» Kuje«, sage ich– es war schon Nacht, ein schöner Sommerabend mit ungewöhnlich vielen Sternen am Himmel–, » Kuje, mal ganz ehrlich: Wie weit denkst du?«
» Ich denke von hier bis zu den Sternen«, sagt mein Vater. » Ich glaube an das, was ich sehe. Für mich ist Wirklichkeit das, wo man mit dem Finger drauf zeigen kann.«
» Siehste, Kuje, das ist der Unterschied. Für mich ist bei den Sternen nicht Schluss. Für mich geht’s dahinter noch weiter. Und ich träume mich da rein, in die unsichtbare Welt hinter den Sternen. Ob da tatsächlich noch was kommt? Vielleicht werde ich es nie erfahren. Aber ich glaube daran.«
» Ich bin ganz anders«, antwortet er. » Bei den Sternen hört’s für mich auf.«
War das also geklärt.
Und ich gestehe: Genau diese nüchterne Art gefällt mir an ihm. Hat mir immer gefallen. Dieser Sinn fürs Naheliegende und Praktische, verbunden mit Disziplin und Zielstrebigkeit. Ständig muss er etwas zu tun haben, und was er anfängt, führt er zu Ende. Sich ein Ziel setzen und darauf hinarbeiten. Kauft sich ein Simson Mofa, einen echten Schrotthaufen, und restauriert es. Oder baut sich den ersten Windabweiser für Wohnwagen in der DDR , aus einer Trabant-Heckklappe, die er mit einer Konstruktion aus Teilen von einem Trabi-Gepäckträger auf seinem Lada befestigt. Damit war er der Erfinder des Windabweisers im Osten, und mit einem Mal wollten alle auf dem Campingplatz in Schmöckwitz diesen Windabweiser haben. Noch heute geht es mir so: Wann immer ich einen sehe, habe ich das Gefühl, die Idee stammt von meinem Vater.
Aber in jeder Stärke wohnt eine Schwäche, und die Kehrseite der Medaille bei ihm war seine Ungeduld mit einem Sohn, den er schon früh im Verdacht hatte, aus der Art geschlagen zu sein. Etwas Besseres, als
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