So fühlt sich Leben an (German Edition)
Druck zu machen, fiel ihm da nicht ein. Nur fürchte ich: Er konnte gar nicht anders. Er war es so gewöhnt. Als Grenzsoldat an der Marschallbrücke durfte er keine Nachsicht zeigen, und in seiner Jugend, in seinem Elternhaus, hatte auch er nie Nachsicht erlebt.
Genaueres weiß ich über seine Kindheit nicht. Er selbst spricht kaum darüber, und ich habe ihn aus Respekt nie bedrängt und nachgebohrt. Was ich weiß, das stammt aus Andeutungen oder Erzählungen meiner Mutter, nicht aus seinem eigenen Mund, aber nach allem, was ich gehört habe, hat ein verbitterter, roher Vater ihm seine Kindheit ziemlich verleidet. Der Hof seiner Eltern in Luplow war einer LPG angeschlossen, und sein Vater muss ihn getriezt und im Befehlston herumgeschickt und pausenlos auf Trab gehalten haben, wie es wahrscheinlich nicht unüblich war auf dem Land, im Dorf, wo ständig Weidevieh umzusetzen, Pferde anzuschirren, Ställe auszumisten, Kühe zu melken und Schweine zu füttern waren. Jedenfalls gab es für diesen Mann nichts als Arbeit, Arbeit, Arbeit– » Los jetzt, was gammelst du wieder rum?!«–, und für meinen Vater nie ein liebes Wort. Auch ich habe diesen Großvater in keiner guten Erinnerung. Für mich war er ein mürrischer, rechthaberischer, aufbrausender und herzloser Typ. Und damit das genaue Gegenteil von Opa Ludwig, dem Vater meiner Mutter.
4 | Großvater sagt
Genug. Mehr weiß ich nicht, mehr brauche ich über diesen Teil der Familie nicht zu wissen, die Verwandtschaft in Luplow, den Vater meines Vaters. Vielleicht, eines Tages, wenn mein Kuje von sich aus…
Schluss mit den Auseinandersetzungen war übrigens erst, als ich spontan auf Gegenwehr geschaltet habe. Ich war siebzehn zu der Zeit, machte eine Lehre auf dem Bau, und der Anlass für unseren letzten Streit war, wie so oft, vollkommen lächerlich.
Er hatte die Angewohnheit, mich zu verdächtigen, mir Böswilligkeit zu unterstellen, und diesmal nahm er an, ich hätte– aus gezielter Gedankenlosigkeit sozusagen– vergessen, meine Sicherheitsschuhe mitzunehmen. Als er eines Tages vor mir nach Hause kam, stand tatsächlich ein Paar Sicherheitsschuhe im Schrank. Was er nicht wusste: Ich hatte vorsichtshalber zwei Paare gekauft. Er entdeckte also das zweite Paar, und kaum war ich zur Tür herein, bekam ich eine gelangt.
» Habe ich dir nicht gesagt, du sollst die Schuhe mitnehmen?«
» Habe ich doch.«
Patsch, die nächste.
» Ey, ich hab sie mitgenommen!«
Patsch, noch eine.
Da habe ich meinerseits hingelangt, bevor er mir die vierte Klatsche verabreichen konnte. Er hat schwer geschluckt, aber danach war Ruhe, ein für allemal. Ich hatte allerdings auch durchgezogen. Das war keine Backpfeife, das war ein Befreiungsschlag gewesen.
Nun ist es aber so, dass in einer Familie zwei Ströme zusammenfließen, einer aus der Welt des Vaters und einer aus der Vergangenheit der Mutter, und zu meinem unbeschreiblichen Glück war die mütterliche Vergangenheit noch lebendig, und zwar in Gestalt von Opa Ludwig. Gar keine Frage– wenn einer mir mein Leben leicht gemacht hat, leicht und schön, dann war er es. Wenn ich einen in meinem Leben vermisse, dann ihn. Sollte ich je bei einer höheren Macht einen Wunsch frei haben, werde ich nicht lange überlegen: Den möchte ich noch mal sehen, mit dem möchte ich noch mal ein paar Stunden verbringen.
An Opa Ludwig war schon rein optisch alles groß. Sein Kopf war groß, seine Ohren waren groß, seine Hände waren riesig und seine Füße auch. Der ganze Mann war eine Erscheinung, aber das Größte an ihm war seine Seele, seine Menschlichkeit. Ich verstand ihn nicht immer auf Anhieb, weil er Plattdeutsch sprach, mit einem Akzent wie Reich-Ranicki, der mich überhaupt an ihn erinnert, auch wenn Opa Ludwig dessen Aufgeregtheit völlig abging. Opa Ludwig war die Ruhe selbst. Seine Schritte setzte er so bedächtig, wie er seine Worte wählte, seine Bewegungen waren grundsätzlich wohlüberlegt und präzise– nie überstürzte er etwas, niemals geriet er in Hektik. Opa Ludwig konntest du nicht scheuchen.
Es reichte, ihn beim Rasieren zu beobachten; das sagte alles. Du wusstest gleich, mit wem du’s zu tun hattest, wenn er im Unterhemd vorm Spiegel stand, die Hose aus dickem Cord von Hosenträgern gehalten, und sein Messer mit ruhiger, gleichmäßiger Bewegung wetzte– sssst, sssst, sssst–, fünf Minuten lang, wie es mir vorkam. Dann griff er zum Pinsel, bereitete den Seifenschaum mit derselben Gründlichkeit zu, nahm als
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