So fühlt sich Leben an (German Edition)
legte oder auf meinen Kopf, dann senkte er sie ganz sanft darauf herab und ließ sie minutenlang da liegen, und ich habe nur gedacht: Gott, ist das schön. Diese Pranke war so beruhigend, ich könnte heulen, wenn ich daran denke. Er brauchte gar nichts zu sagen. Ich verstand ja, was diese Gesten bedeuteten: Ich bin da… Das reichte völlig.
Ist er je böse geworden?
Niemals. Ich habe ihm auch nie Grund dazu geliefert. Wir waren ja ein Team, wir gehörten zusammen, in seiner Nähe war auch ich die Ruhe selbst. Alles war, wie es war, und wie es war, war es gut. Wenn ich wegwollte, hat er mich ziehen lassen, und es hat nie lange gedauert, da stand ich wieder neben ihm. Der größte Moment aber kam, wenn er mir seine Schiebermütze aufsetzte. Wenn er mir diese Mütze mit all dem Schweiß drin überstülpte, um mein Haar vor Sägespänen zu schützen. Das war nur ein labbriger, speckiger Lappen, aber beim ersten Mal bin ich rausgerannt und habe mich voller Stolz meiner Mutter präsentiert und bin im Kreis gesprungen vor Freude.
Und was wir uns unterhalten haben! Er hat erzählt, ich habe zugehört, und die Zeit verging wie im Flug. In seiner Nähe kam nie Langeweile auf. Ob ich traurig war, ob ich Quatsch gemacht hatte, immer fand er die richtigen Worte. Was er auch sagte, alles ergab für mich einen Sinn, nie hat mir ein anderer Mensch so viel Kluges und Wahres gesagt. Oft ging es in seinen Geschichten um Trauer und Tod, um das Unglück, das er gesehen hatte und von dem die Welt offenbar voll war, um den Krieg oder seine Gefangenschaft, die eisigen Winter und wie er als Kradmelder durch Russland gekurvt ist– Hunger und Not überall, aber für mich war es wie Märchenstunde, spannender als jeder Film. Oft ging es auch um die Einstellung zum Leben und darum, was ernst zu nehmen sei und was nicht. » Glaub nicht alles, was sie erzählen, mein Junge«, sagte er. » Wie meinst du das, Opa?«, habe ich natürlich gefragt, und dann holte er aus und begann: » Es werden Menschen kommen, die dir dies weyßmachen wollen, die dir jenes weyßmachen wollen, glaub ihnen nicht. Sey auf der Hut. Frag nach, sieh genau hin. Prüf nach, ob eyner das ist, wofür er sich ausgibt…«
So war das mit meinem Opa Ludwig. Und immer hat er mir das Gefühl gegeben, stolz auf mich zu sein. Ich wusste gar nicht, weshalb– wohl einfach darum, weil ich sein Junge war. Dann starb seine Frau, und ein paar Wochen später war auch Opa Ludwig tot. Er wollte nicht mehr. War aber bis zuletzt bei klarem Verstand.
Und jetzt?
Erfolg, hatte Opa Ludwig gesagt, sei die logische Konsequenz von Fleiß, und Erfolg konnte ich brauchen. Wenn was damit zu gewinnen war, hatte ich nichts gegen Fleiß. Im Gegenteil. Die Ausdauer, mit der ich bisher alles betrieben hatte, wozu ich Lust hatte– Vorgärten umgraben, Fahrrad fahren, Olsenbande gucken–, sah schon verdächtig nach Fleiß aus. Brauchte ich nur noch ein Betätigungsfeld, das meiner Ausdauer und meiner zweifellos reichlich vorhandenen Talente würdig war.
Die Schule schied definitiv aus. In diesem Punkt sah es finster aus, auch als meine Klassenlehrerin nach der sechsten Klasse durch einen neuen Lehrer ersetzt wurde. Mit seinem hellgrauen Nylon-Hausmeisterkittel, aus dem oben sein langer, dünner Hals rausragte und seitlich seine Hände mit den langen, dünnen Fingern, war nämlich die gleiche Fehlbesetzung wie sie mit ihrer lila Tinte. Mal abgesehen davon, dass ich gar nicht hingucken konnte (so fies war der Kerl), machte er einen furztrockenen Unterricht ohne jeden Witz, sodass ich meistens pünktlich zu Beginn seiner Stunden einschlief, demonstrativ, mit dem Kopf auf dem Tisch. Überflüssig zu erwähnen, dass ich eindeutig nicht zu seinen Lieblingen zählte.
Kurz gesagt, ich fand die Schule zum Kotzen. Damit blieb vorerst ein einziges Betätigungsfeld übrig, und darauf hatte ich nicht nur Lust, das erschien mir außerdem äußerst vielversprechend: das Tischtennisspielen.
Ich war ja schon seit Längerem dabei. Angefangen hatte es in der dritten Klasse an dem Tag, als die Abgesandten der Sportvereine ihre Runde durch unsere Schule drehten und alle Schüler meiner Jahrgangsstufe nach Disziplinen einteilten, je nachdem, wie einer körperlich drauf war. Im Osten wurdest du ja früh zum Sport rekrutiert, egal ob Junge oder Mädchen, und bei mir tippten sie auf Tischtennisspieler. Ich also ab zum Probetraining, die Turnhalle lag gleich um die Ecke, und schon in der ersten Minute was gelernt. » Das
Weitere Kostenlose Bücher