So fühlt sich Leben an (German Edition)
war das Oberhaupt der Sowjetunion, der wirkte eloquent und aufrichtig, und das war’s für mich auch schon. Dass er die treibende Kraft war, habe ich nicht geschnallt. Manchmal sah man ihn Seite an Seite mit Honecker in der Nachrichtensendung Aktuelle Kamera, und dann sprang der Unterschied ins Auge: Honecker wirkte gegen ihn wie ein Greis. Der war für jedermann sichtbar am Ende. Honecker hat keinen klaren Satz mehr zusammengekriegt, das war ein Gelalle und Gestammele, man konnte gar nicht hinhören, und der Rest des Zentralkomitees war genauso dement.
So absurd es klingt, aber unser Adolf konnte da schon eher als Vorbote der neuen Zeit gelten. Wenigstens, was Marzahn betrifft.
Adolf wohnte am Eingang zum Schulgelände; wir mussten täglich bei ihm vorbei und hatten unsere Raucherecke schräg unter seinem Balkon. Er war um die sechzig und immer hackevoll, aber akkurat in seinen Gewohnheiten. Du konntest die Uhr danach stellen, wann er auf seinen Balkon trat und mit seinen Reden anfing. Meiner Ansicht nach waren das originale Hitlerreden, die er auch im Original-Reichsparteitagsstil vortrug; offenbar hatte er sie auswendig gelernt. Keiner wusste, wie er richtig hieß, er wurde von allen einfach nur Adolf genannt. Der tauchte also täglich auf seinem Balkon auf, stützte sich mit beiden Händen auf die Brüstung und legte los. Dass er uns, ein Häufchen rauchender Schüler, als Publikum hatte, dürfte ihn noch beflügelt haben. Natürlich nahm ihn keiner ernst, auch wir haben ihn bloß ausgelacht, aber das war ihm egal. Bisweilen kam seine Alte raus, seine Eva Braun, und wenn sie nicht spurte, warf er sie vom Balkon, zwei Meter tief.
Von Zeit zu Zeit schaute der ABV vorbei, unser Abschnittsbevollmächtigter mit den drei Haaren auf der Glatze, und wenn Adolf gerade einen seiner Auftritte hatte, gerieten sie aneinander. Der ABV brüllte von unten : » Mensch, lass gut sein, krieg dich wieder ein!«, und Adolf brüllte von oben zurück und dachte gar nicht daran, sich wieder einzukriegen. Dann konnte es passieren, dass der ABV Verstärkung anforderte, mit dem Ergebnis, dass Adolfs Bude gestürmt und er selbst von seinem Balkon geholt und abgeführt wurde. Früher oder später aber war er wieder da und setzte seine Ansprachen ungerührt fort. Für uns war das beste Unterhaltung. Das Absurdeste jedoch war, dass er nach der Wende gar nicht mehr auffiel. Im Gegenteil. Als Marzahn ein rechtsfreier Raum wurde, als keine Bullen mehr aufkreuzten und stattdessen zwanzig, dreißig Neonazis unter seinem Balkon zusammenliefen, da muss Adolf sich als Sieger und Mann der Stunde gefühlt haben.
Zunächst ahnte natürlich niemand, was sich da anbahnte. Nur, dass sich was anbahnte. Wenn ich meinen Vater zum Beispiel ins Fußballstadion begleitete…
Ein großer Fußballfan war er nicht, aber hin und wieder sah er sich ein Spiel des BFC im Stadion an. Das war sein Verein. Wahrscheinlich, weil seine Kollegen auch alle BFC -Anhänger waren. Der BFC war ja als Stasi-Klub verrufen, weil Erich Mielke ihn protegierte, seit undenklichen Zeiten Minister für Staatssicherheit, aber Fußballspielen konnten sie, der Kader war damals gut. Wir also immer mal wieder ins Cantianstadion an der Eberswalder Straße gefahren und irgendwann gespürt, dass eine ungewöhnliche Gereiztheit in der Luft lag: Rufe wurden laut, und Parolen tauchten auf, in denen sich Unmut Luft machte, aus denen Spott für die politische Führung herauszuhören war, und plötzlich wurden zu jedem Spiel NVA -Soldaten aufgeboten, wohl um Ausschreitungen der aufgebrachten Volksmassen zu verhindern.
Selbst dort also. Im Stadion und öffentlich. Zwar hatte sich die Stimmung kopfschüttelnder Verständnislosigkeit über den Starrsinn unserer Politiker inzwischen vielerorts breitgemacht, in der Schule wie im Tischtennisverein, in den Diskotheken wie in den Jugendklubs. Noch dachte allerdings keiner an Wiedervereinigung. Oder daran, dass die Mauer fallen könnte. Aber man fing an, unerhörte Fragen zu stellen: Warum darf man in diesem Land eigentlich nicht reisen? Warum sind wir hier eingesperrt wie in einem Knast? Warum gehen die da oben eigentlich davon aus, dass jeder, der ins westliche Ausland fährt, dort bleiben will? So kühn war bisher stets nur hinter verschlossenen Türen geredet worden. Dabei erwischen lassen wollte sich keiner.
Dann tauchten die ersten Flugblätter auf. Die Aktuelle Kamera berichtete, eher am Rand, von Unruhen. Aus den Zeitungen war etwas mehr zu
Weitere Kostenlose Bücher