So fühlt sich Leben an (German Edition)
Entweder fahren hier bald Panzer durch die Gegend und alles wird über den Haufen geschossen, oder aus diesem Schneeball wird eine Lawine.
6 | Ausreise, bevor ich ausreiße
Die nächste Erinnerung: der bürgerliche Abendbrottisch. Der Fernseher läuft, die Aktuelle Kamera ist eingeschaltet. Bilder von einer Pressekonferenz, auf der Schabowski mit monotoner Stimme ZK -Beschlüsse verliest. Und plötzlich sagt: » Meines Erachtens ab sofort.«
Wie bitte? Wie hatte die Frage gelautet? Wann die Reiseerleichterungen in Kraft treten? Ab wann unsereins ohne Visum und Sondergenehmigung in den Westen ausreisen darf? Und was hatte Schabowski geantwortet? » Meines Erachtens ab sofort«? Also ab heute, neunzehn Uhr dreißig? Und was hieß: » meines« Erachtens? Sprach er denn nicht fürs Zentralkomitee?
» Der redet irre«, sagte mein Vater, als er seine Sprache wiedergefunden hatte. » Der hat nicht mehr alle Tassen im Schrank. Ab sofort alle Mauerdurchgänge geöffnet? Das kann nicht sein Ernst sein.«
Völliges Unverständnis bei meinem Vater.
Fassungslosigkeit.
Als hätte man ihm den Todesstoß versetzt.
» Der redet irre.« Der letzte Strohhalm.
Aber lange konnte er sich nicht daran klammern. Das Telefon schellte, er hob ab, ein Codewort wurde durchgegeben– Ausnahmezustand, wie ich später erfuhr–, und mein Kuje zog sich an, steckte ein Schlüsselbund ein und machte sich auf die Socken.
Irgendwann hat er mir erzählt, was er in dieser Nacht getan hat, nämlich zu seiner Dienststelle an der Marschallbrücke fahren, die Waffenkammer aufschließen und die Munition entsorgen. Vernichten, wegschmeißen, einstecken, was weiß ich. Jedenfalls die Magazine der Pistolen leeren, wieder hinter sich absperren und in den Murtzaner Ring zurückfahren.
Diese Tat rechne ich ihm heute noch hoch an. In diesem historischen Augenblick kommt er mir wie ein Filmheld vor. Ist in seinen tiefsten Überzeugungen getroffen und fährt trotzdem hin, weil er befürchtet, dass irgendeiner in seinem Zug, auf seiner Dienststelle, von der Schusswaffe Gebrauch machen könnte. Das war seine ureigenste Entscheidung. Er wollte Schlimmeres verhüten. Sie waren ja rings um Berlin stationiert, die Volksarmee, die Staatssicherheit, und sie waren im Alarmzustand, sie haben nur darauf gewartet, dass einer vom ZK zum Angriff bläst. Mein Vater hat mit sich gerungen, aber er hat’s getan. Da hat er Courage gezeigt.
Und während er Munition vernichtete, saß ich mit meiner Mutter im Wohnzimmer und schaute mir die Fortsetzung an. » Jetzt geht’s los«, sagte sie. » Jetzt geht’s los.« Und dann sah man, wie die Massen auf Schabowskis Stichwort hin losrannten. Schlagbaum hoch, Leute durch, Freudentränen, Autokorso auf der Bornholmer Straße, mehr Freudentränen, Menschen auf der Mauer, Lachende, Jubelnde, Tanzende, Menschen, die mit Spitzhacken auf die Mauer eindreschen. Und das eindrucksvollste, unvergesslichste Bild dieser unvergesslichen Nacht: Kampfgruppen und Volksarmee sperren das Brandenburger Tor ab, stehen da in einer langen Reihe mit versteinerten Gesichtern, das Brandenburger Tor von den Scheinwerfern westlicher Fernsehsender von hinten angestrahlt, beinahe unwirklich das Ganze, und eine kleine, alte Frau bläst einem der Soldaten den Marsch. » Wieso sperrt ihr uns ein?«, fragte sie ihn mit tränenerstickter Stimme. » Was denkt ihr denn? Wen beschützt ihr eigentlich?« Und keine Reaktion. Da redet so ein Mütterchen frei Schnauze, und der Kerl antwortet nicht mal. Sagt gar nichts dazu. Steht nur regungslos da und blickt ins Leere, guckt durch sie durch. Und du weißt, sie hat recht. Das war der Moment, als ich mir sicher war: Alles klar. Die packen’s nicht mehr. Jetzt können wir rüber.
Bei meinem Vater war es die pure Enttäuschung. Meine Mutter wirkte auf mich eher erleichtert. Aber zu den Familien, die am nächsten Morgen gleich losgefahren sind zum nächsten Grenzübergang, gehörten wir nicht. Wir haben erst einmal alles auf uns zukommen lassen, im Fernsehen. Anderntags kamen sie auf der Straße angelaufen und sagten: » Mensch, ich war gestern Nacht an der Grenze…« Weder für Muttern noch für Kuje kam das infrage. Für meinen Vater wohl auch deshalb nicht, weil er aus bestimmten Quellen wusste, dass noch nicht alle Messen gesungen waren. Also haben wir die Nachbarn erst mal erzählen lassen.
Die Nachbarn… Da habe ich noch nachsichtig gelächelt. Aber wenn deine Klassenkameraden ankommen, wenn die Kumpel aus deiner
Weitere Kostenlose Bücher