So fühlt sich Leben an (German Edition)
Clique ankommen, wenn sie im Jugendheim über dich herfallen und jeder dir erzählt, wie geil es drüben ist, dann ist Schluss mit Lächeln.
» Ick will ooch rüber«, hab ich gesagt.
Und Vattern: » Niemals. Ohne mich. Ich fahr da nicht rüber. Ihr könnt machen, was ihr wollt, aber ohne mich. Mich kriegen keine zehn Pferde da rüber. Die sind doch alle bekloppt.«
Na gut, mein Vater war immer noch fassungslos. Doch meine Mutter sagte: » Na, dann fahren wir mal.«
Bin ich mit Muttern rüber.
Geil war’s.
Allein die Euphorie. Die Freude in den Gesichtern. Die Aufregung überall. Man hatte ja wirklich keine Vorstellung, wie es hinter der Mauer aussah. Und gleichzeitig das Gefühl, jetzt in Feindesland zu sein. Im Reich des Bösen. Was erwartete einen hier? In der nächsten Stunde? Im nächsten Augenblick? Kopfsprung ins kalte Wasser, dachte ich. Aber das Wasser war nicht kalt.
Wir fuhren mit der Straßenbahn zum Übergang Bornholmer Straße, wo alles angefangen hatte, und machten uns von dort zu Fuß auf den Weg, ich vorweg, meine Mutter ein bisschen zögerlich hinterher, im Stillen von der Sorge gequält, wir könnten auf dem Rückweg vor geschlossenen Schranken stehen und in versteinerte Gesichter blicken. Am Übergang massenhaft Menschen– auch Rückkehrer, die auf der anderen Straßenseite ungehindert vom westlichen Teil in den östlichen wechselten. Beruhigend. Und dann haben wir uns nicht so richtig getraut. Haben vor ein paar Geschäften gestanden, Wahnsinn, haben ein paar Autos bestaunt, Audi, BMW , Golf, ebenfalls Wahnsinn, und, ja, an die Türken erinnere ich mich, weil es aus den Dönerläden so gut roch und mir der Intershop auf dem Campingplatz in Schmöckwitz einfiel. Dann standen wir an einer Ampel, sie zeigte Rot, und ein Mercedes rollte heran und blieb genau vor mir stehen. Die S-Klasse. Ein Riesending. Dasselbe Modell, das mir Seife an seiner Kordel runtergelassen hatte. Also auch Wahnsinn, bei uns im Osten war ja auf dem Gebiet alles klein. Gut, aber jetzt schnell wieder zurück, auf die sichere Seite, bevor unsere Staatsführung es sich doch noch anders überlegte. Wusste man’s?
Mein Vater war neugierig. » Wie war’s?« Ich werde ihm von dem Mercedes erzählt haben. » Und sonst?« Tja, auch Audi und Golf und viele Türken, aber auch Punker, streunende Hunde und Penner. » Und nu’?« Keine Ahnung. Abwarten. Werden wir erleben. Mein Vater verfolgte alles weiterhin am Fernseher, und in jeder Stadt der DDR das Gleiche: » Wir sind das Volk.«
Viele suchten das Weite. Anfangs waren sie über Ungarn geflohen, jetzt setzten sie sich über die innerdeutsche Grenze ab; auch ein Freund von mir verschwand von heute auf morgen. Dafür hatte ich kein Verständnis. Zu Hause war doch zu Hause… Aber wahrscheinlich waren die Leute es einfach leid. Sie waren dieses geregelte Dasein leid und die sozialistische 08/15-Existenz. Sie wollten mehr vom Leben.
Gut, am nächsten und am übernächsten Tag war die Mauer immer noch offen, und am dritten Tag kamen meine Kumpel freudestrahlend auf mich zu: » Ey, unglaublich. Drüben gibt’s Begrüßungsgeld. Die geben jedem hundert D-Mark!« Da stellten sich bei mir die Ohren auf. Hatte jemand von » Geld« gesprochen? Hatte ich » D-Mark« gehört? Hatte einer » geschenkt« gesagt? » Na klar. Det brauchste nich zurückzugeben.«
Begrüßungsgeld. Ein hübscher Name für eine sehr noble Geste. Und nachdem jeder seine hundert Mark abgeholt hatte– gegen einen Stempel als Empfangsbestätigung in seinem Ausweis–, kam einer von uns auf die glorreiche Idee, das unverhoffte Glück eigenmächtig zu verlängern und den verräterischen Stempel einfach zu überkleben. Mit FDJ -Marken zum Beispiel, oder mit Sportabzeichenmarken, ganz egal. Es waren einige von uns, darunter Marek, bereits in der achten Klasse von der Schule abgegangen und arbeiteten inzwischen in einer LPG . Von denen dachte in diesen Tagen keiner daran, arbeiten zu gehen, weil seit der Nacht, in der die Mauer gefallen war, kaum noch jemand zur Arbeit ging– alle wollten zunächst abwarten, wie’s weiterging, und in manchen Betrieben erschien überhaupt keiner mehr zum Dienst. Marek war also mit von der Partie und steuerte gleich einen wertvollen Hinweis bei. » Ich wüsste, wo bei meinem Chef die Marken in der Schublade liegen«, sagte er.
Wir auf der Stelle zu seiner LPG rausgefahren.
Die ganze Anlage war verwaist, nicht mal der Pförtner befand sich auf seinem Posten. Folglich ging
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