So fühlt sich Leben an (German Edition)
war’s scheißegal. Ich wusste nur: Du kannst jederzeit rüber, du kannst jederzeit zurück, da ist nüscht verkehrt daran, und rüber wollte ich immer wieder. Dafür gab es einen speziellen, einen sehr speziellen Grund. Natürlich hatte man irgendwann verinnerlicht, wie ein Döner riecht, wie eine Coca-Cola schmeckt, aber was für mich unfassbar war und blieb, das waren die Graffiti. Diese Tausende von Graffiti an den Grundstücksmauern und Häuserwänden, den Hauseingängen und Fabrikmauern von Westberlin.
Vom ersten Tag an hatten sie bei mir den tiefsten Eindruck hinterlassen. Wie oft bin ich in den folgenden Wochen wie angewurzelt an einer Straßenecke stehen geblieben, bloß um Graffiti zu bestaunen. Die anderen wollten weiter, und ich dann jedes Mal: » Nee, wartet, die sind ja traumhaft…« Einige Sprüher waren mir schon aufgefallen, wie Some, Dane, Amok, Shek, aber die eigentliche Offenbarung erwartete mich auf der Rückseite der Mauer.
Wir konnten ja jetzt auch das besichtigen, was für uns die Rückseite gewesen war, und siehe da: Auf der Westberliner Seite war sie komplett besprüht! Ich bin die Mauer entlanggelaufen und ins Essen gefallen– Mauer ohne Ende und alles bunt, bunt, bunt. Ich hatte mich für die Mauer vorher gar nicht interessiert. Ich hatte gedacht, auf der anderen Seite sieht sie genauso aus wie auf unserer. Tagelang habe ich nichts anderes gemacht, als mit meiner Fotokamera auf die Jagd zu gehen, auf Entdeckungsreise im Graffitiland. Es war abenteuerlich. Von den Bildern eines gewissen Amok konnte ich mich gar nicht losreißen, die Präzision, die Farben, alles erschien mir überirdisch. Wenn ich mal Sprüher bei der Arbeit sah, habe ich mich gar nicht hingetraut, da habe ich aus sicherer Entfernung zugeschaut und höchstens so getan, als würde ich ganz zufällig vorbeigeschlendert kommen– als Ostler fühlte man sich im Westen noch eine ganze Weile lang als Fremder. Als Weltfremder.
Noch hatte ich nicht vor, selbst aktiv zu werden. Noch hatte ich ein gutes Jahr Schule vor mir. Aber meine Fotosafaris führten mich immer mal wieder auf die andere Seite der Mauer, auch nachdem bei mir eine Art Wenderoutine eingesetzt hatte, als meine Einkaufstouren in den Westen immer seltener wurden und unser fröhlicher Ost-West-Tourismus weitgehend zum Erliegen kam.
Im Übrigen waren es nicht nur schöne Bilder, mit denen ich nach Marzahn zurückkehrte.
Da waren die Köterrudel am Kottbusser Tor, die mich gerade deshalb bis in meine Träume hinein verfolgten, weil ich Hunde so liebte. Solche Viecher hatte es in Marzahn nie gegeben, räudige Streuner mit verfilztem Fell und schmutzigen Schnauzen, daran gewöhnt, Abfallhaufen zu durchstöbern. Gut, dass mein Vater sie nicht sehen musste– vielleicht hätte er in den Schnauzen dieser erbärmlichen Biester die abstoßende Fratze des Kapitalismus wiedererkannt. Noch blieben sie, wo sie waren, noch hatten sich diese gierigen Vierbeiner nicht aufgemacht, den Osten zu erobern, aber war ihr hungriges Knurren nicht auch bei uns schon zu hören? Würde uns das ebenfalls blühen, die Penner am Kotti, die bettelnden Punker, die Junkies, die Prostituierten, der ganze Dreck, der die Straßen rund um das Kottbusser Tor zum perfekten Revier dieser hässlichen Köter machte?
Ich war schockiert. Hier der Mercedes, dort der Penner, der einen Abfallkorb durchwühlt; solche Extreme war ich nicht gewöhnt. Hatte uns mein Vater mit seinen großen, schönen, gefährlichen Osthunden womöglich doch beschützt, aber vor etwas ganz anderem, nämlich vor Anblicken, bei denen einem genauso schwindelig werden konnte wie angesichts des ganzen Luxus? Vor Bildern wie dem des Obdachlosen zum Beispiel, der gleich neben dem Bahnhof Kottbusser Tor unter dem Stahlgerüst der U-Bahn lebte und der mir als der trostlose Mittelpunkt all dieser Verkommenheit erschien? Er hatte sich da regelrecht ausgebreitet, mit allerhand Einkaufswagen rund um sein Matratzenlager, in dem er hauste, als wäre er allein auf dieser Welt. Da saß er, ein alter Mann mit grauem Bart in vergammelten Klamotten, auf unbegreifliche Art mit sich selbst beschäftigt, und niemand nahm von ihm Notiz, kein Auto hielt seinetwegen an, kein Mensch würdigte ihn eines Wortes oder auch nur eines Blickes. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Wie musste sich das Leben für einen wie ihn anfühlen?
Ein gespenstischer Ort, dieser einsame, von Verkehr umtoste Lagerplatz. Auf Dauer blieb ich doch lieber in Marzahn. Marzahn war
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