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So fühlt sich Leben an (German Edition)

So fühlt sich Leben an (German Edition)

Titel: So fühlt sich Leben an (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hagen Stoll
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niemand dazwischen, als Marek eine Baracke nach der anderen aufschloss, und kein Mensch hinderte uns, die Schreibtische zu filzen und Berge von Marken aus den Schubladen zu holen, Essensmarken, Auszeichnungsmarken, Sportabzeichenmarken, was uns gerade in die Hände fiel. Wir die Dinger angeleckt, die Stempel damit überklebt, den Rest der Marken sichergestellt, zur nächsten Bank gefahren, ums Begrüßungsgeld gebeten, und siehe da, der Schwindel funktionierte: Der Typ am Schalter kiekte, alles klar, schob die hundert Mark durch, knallte einen neuen Stempel rein und fertig, ciao, auf Wiedersehen.
    Nachdem wir diese Nummer sechs- oder siebenmal durchgezogen hatten, war ich ein gemachter Mann und bereit, über die kapitalistische Pracht jenseits der Mauer herzufallen.
    Den Anfang machte Hamburger Speck, eine schaumstoffartige Süßigkeit in der Farbkombination rosa, weiß und gelb– super Geschmack, kann ich nur sagen, und so süß, dass man eine halbe Stunde lang mit Herzrasen durch die Gegend lief. Dann folgte ein Sony Walkman– und plötzlich konnte ich meine Musikkassetten aus dem SKR 700 daheim auch unterwegs hören. Als Nächstes fielen wir bei Woolworth ein– und wenig später gehörten mir eine Pash-Hose, eine lila Minnesota-Vikings-Jacke, ultrageile Nike-Jordans sowie ein echter amerikanischer Armeerucksack. Und kaum hatten wir das geschafft, ging’s zu WOM am Kurfürstendamm, Schallplatten kaufen, Rap-Platten, und ab nach Hause, den Plattenspieler angeschmissen– mein erstes Album war Recognition von den Demon Boyz, ganz frisch, gerade erschienen. Mit anderen Worten: Im Verlauf unserer Einkaufstouren, die wir konsequent zu siebt zusammengepfercht in einem Trabant unternahmen, verwandelten wir uns unaufhaltsam in veritable Hip-Hopper, wobei es allerdings vorkam, dass sich die nagelneuen Klamotten als zu klein herausstellten, weil wir es doof fanden, wie die Schnepfen vorher damit in die Umkleidekabine zu gehen.
    Kurzum: Ich war von der Wende extrem begeistert. Daran hatte auch der verführerisch duftende türkische Döner seinen Anteil. Und die ungemein schmackhafte griechische Gyros-Pita mit Zwiebeln und Tsatsiki. Die hübschen Türkinnen sowie die dunkelhäutigen Schönheiten nicht zu vergessen– gab’s bei uns im Osten ja auch nicht. Überhaupt die Leute, die Westberliner– jeder war freundlich, jeder war nett, was mich bei meinen ersten Spritztouren in den goldenen Westen regelrecht irritierte: Ich war doch davon ausgegangen, dass hinter jeder Straßenecke der Kapitalist lauerte, dass ich auf Schritt und Tritt damit rechnen musste, dem Klassenfeind in die Arme zu laufen, aber nichts da, keiner, der auch nur » Scheißostler« gesagt hätte. Was an dieser Stelle aber ganz besonders hervorgehoben und gewürdigt zu werden verdient, ist die amerikanische Brause, die richtige, echte Coca-Cola.
    Ein Schluck, und bin ich vom Glauben abgefallen. Mein allererster Gedanke war: Wer hat sich denn so was einfallen lassen? Himmlisch, dieses Gefühl, ’ne Dose aufzureißen und den ersten frischen Schluck zu nehmen, gar nicht zu vergleichen mit dem Spuckeschluck aus den weggeworfenen Colaflaschen auf dem Campingplatz in Schmöckwitz. Und die Dose natürlich nicht auf ex reingezogen, sondern den Inhalt schön eingeteilt und Schluck für Schluck über die Zunge in die Kehle laufen gelassen– irre, wie das kribbelte. Die Cola, die im Osten in den Regalen stand, hat dich danach überhaupt nicht mehr interessiert.
    Also, wir waren im Ost-West-Rausch. Zurück in Marzahn, habe ich jedes Mal von meinen Erlebnissen erzählt. » Kuje, du musst mal rüber«, habe ich dann gesagt, » du musst dir das mal ankieken.« Aber da war nichts zu machen. » Nein«, sagte er. » Lass mich in Ruhe.« Mein Vater war schon ordentlich verbittert. Es gab für ihn ja auch nichts mehr zu tun. » Wat willste mir noch kontrollieren«, haben die Kapitäne der Schubschiffe gesagt, und Vattern hat sie nur noch durchgewinkt. Was sollte er jetzt machen? Den ganzen Tag Schiffe durchwinken? Außerdem hatte er ja recht: Nichts war entschieden. Irgendwann haben sie Egon Krenz vorgeschoben, für mich ein Schreckgespenst, ein Statist, den sie dahin gestellt hatten mit dem Auftrag, mal was Schlaues von sich zu geben– sogar mein Vater hatte nur ein » Ach, du Scheiße« für ihn übrig. Also, ein Kasperletheater das Ganze, und wir standen weiterhin vor der Frage: Was passiert denn jetzt mit unserem Land?
    Um ehrlich zu sein: Mir war’s egal. Mir

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