So fühlt sich Leben an (German Edition)
richtet ihr unbestechliches Augenmerk auf diesen Tisch und entdeckt etwas, das ich bisher für einen Kratzer gehalten habe. Es ist aber kein Kratzer. Es ist ein drei Zentimeter langer Charlottenburger. Ein Eumel. Ein Nasenauswurf, der mit der Zeit knochenhart geworden ist. Mir ist die wahre Natur dieses Phänomens entgangen, aber Angelika aus ihrer Ein-Meter-fünfzig-Perspektive erkennt den Sachverhalt auf den ersten Blick, wirft sich auf den Tisch, beäugt den Schandfleck aus der Nähe und sagt:
» Hagen, der muss weg.«
Ich: » Warte, ich hol einen Lappen.«
Und sie: » Da hilft kein Lappen. Da kannst du so lange drüberwischen, wie du willst. Schau her…«– und leckt sich den Daumen, fährt damit über den Charlottenburger, speichelt sich den Daumen erneut ein, fährt noch mal drüber, nimmt dann den Daumennagel und kratzt. Kratzt. Kratzt.
Einweichen, wegkratzen– Technik vom Feinsten. Ich sehe diese kleine Frau noch halb auf dem Tisch liegen und mir diesen Blick zuwerfen: So, Freundchen, jetzt werde ich dir mal was zeigen!
» Angie«, sage ich, » das ist doch nicht dein Ernst.«
Und sie, ganz Alt-Berliner Kodderschnauze: » Wat meenste damit? Kiek doch her! Kiek her! Jeht ab! Jeht ab!«
Ich muss gestehen: Die Vorführung war nicht nach meinem Geschmack. » Bei aller Liebe, Angelika«, habe ich gesagt, » aber das wirst du bei mir nicht erleben. Ich bin wohl doch nicht die Spitzenputzkraft, die du in mir siehst.«
Man musste ein Putzteufel sein, um in der Welt meiner Chefin zu bestehen, und mir fehlte es an der nötigen Teuflischkeit. Irgendwann bin ich zu ihr gefahren und habe ihr erklärt, dass ich aufhöre. » Kein Problem«, sagte sie. » Hast gute Arbeit gemacht.«
Und damit war ich in Ehren entlassen.
23 | Aggro Berlin, Label Nr. 1
Es ist an der Zeit, auf meine musikalische Entwicklung zurückzukommen, schließlich wird hier die Lebensgeschichte eines Musikers erzählt, oder? Wenn ich mir das Bisherige so durchlese… Sollte ich besser » Entertainer« sagen? Sprechen wir hier nicht von so einer menschlichen Motte, die immer ins Scheinwerferlicht fliegt (außer, wenn sie gerade putzt)? Ich befürchte es fast.
Ich sehe es bei Paul, meinem Sohn, der mir so ähnlich ist. Wie er es mit seinen vier Jahren schafft, Leute zu unterhalten! Gerade ist er in einer Piraten-Ritter-Phase und geht ohne Schwert nicht mehr aus dem Haus, und wenn die Sonne rauskommt, kämpft er gegen seinen eigenen Schatten. Oder er steht auf dem Bett und sagt: » Papa, pass mal auf, ich mach jetzt Faxen!« Ich ahne schon den Klassenclown, der sich laufend was einfallen lässt, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. So wie ich. Ich saß in der Schule grundsätzlich in der letzten Reihe, weil vorne uncool war, und habe mit dem Stuhl gekippelt, und wenn ich rücklings hingeschlagen bin, hat’s vielleicht wehgetan, aber– was war das bisschen Schmerz gegen die Aufmerksamkeit der gesamten Klasse?
Oder Gedichte auswendig lernen und dann vortragen… Für andere war’s der Horror, für mich das pure Vergnügen. Auswendiglernen fiel mir nicht leicht, aber wenn’s ans Aufsagen ging, konnte ich’s kaum erwarten und habe mich über Leute, die vor der Klasse den Mund nicht aufkriegten, totgelacht. Leute wie Horst zum Beispiel. Der war so aufgeregt, dass er vor Nervosität noch vor dem ersten Piepser anfing, auf den Zehenspitzen auf und nieder zu wippen. Nervosität ist natürlich das Todesurteil für jedes Gedicht. Was habe ich mich amüsiert über den Ärmsten! Dagegen ich. Erlkönig. Wer reitet so spät durch Nacht und Wind… Goethe habe ich gemocht und Dramatik reingelegt und kleine Pausen eingelegt, so als würde mir selbst der Atem vor Entsetzen stocken. Horst hat versucht, seinen Erlkönig runterzurattern, hat sich verhaspelt und verplappert, und die ganze Klasse hat gelacht. Aber anders als bei mir, wenn ich mit dem Stuhl hingeknallt bin.
Die Magie der Worte, die Kraft des Vortrags, die Macht der Rede. » Wie kann es sein, dass alle Leute dir zuhören?«, hat mich mein Vater gefragt. Ganz einfach, du musst eine Brücke zu deinem Publikum schlagen. Du darfst keine Berührungsangst haben. Du musst dein Publikum lieben wie dich selbst. Es will doch immer einer den anderen erreichen, also: mit Worten, Blicken, Gesten die Hand ausstrecken, das Publikum festhalten und zu dir heranziehen. Auf Musik trifft dasselbe zu. Auf Politik übrigens ebenso.
Aber du musst die geballte Gegenliebe deines Publikums auch aushalten. Wenn du
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