So gut wie tot
war falsch –« Wieder keuchte sie.
Dann wurde das Gespräch unterbrochen.
Abby wählte sofort die Nummer, doch es meldete sich nur die Mailbox.
Zitternd starrte sie auf das Display, rechnete jede Sekunde mit einem Anruf von Ricky. Nichts geschah.
Sie schloss die Augen. Wie viel konnte ihre Mutter noch ertragen? Was wollte er ihr noch antun?
Du Schwein. Du mieses Schwein, mieses, mieses, mieses Schwein.
Ricky war clever. Zu clever. Er schien zu gewinnen. Er wusste, dass sie die Briefmarken nicht problemlos verkaufen konnte. Ihr Plan, ihn mit einer kleinen Summe abzufertigen und zu behaupten, Dave habe den größten Teil der Sammlung an sich genommen, war damit gestorben.
Sie wusste nicht, was sie jetzt tun sollte.
Beschwörend betrachtete sie das Handy, wollte es zum Klingeln bewegen.
Nun ja, eins konnte sie noch tun, und zwar so schnell wie möglich. Sie würde das Leiden ihrer Mutter beenden, auch wenn sie Ricky alles geben musste, was er haben wollte. Fast alles.
Dann kam ihr eine Idee. Sie beugte sich vor und fragte: »Kennen Sie Briefmarkenhändler hier in der Gegend?«
Die Taxifahrerin, auf deren Ausweis »Sally Bidwell« stand, antwortete: »Es gibt einen Laden namens Hawkes, er ist in der Nähe des Bahnhofs in der Queens Road. Und noch einen in Shoreham und in den Lanes, auf der Prince Albert Street.«
»Bringen Sie mich in die Queens Road, das ist am nächsten.«
»Sind Sie eine Sammlerin?«
»Nur im ganz kleinen Stil«, antwortete Abby, griff in ihren Mantel und löste die Gürtelschnalle.
»Ich dachte immer, das wäre ein Hobby für Jungs.«
»Ja«, erwiderte Abby höflich.
Sie hielt den Polsterumschlag so, dass die Fahrerin ihn nicht im Rückspiegel sehen konnte, und suchte nach einigen weniger wertvollen Marken. Sie zog einen Satz von vier Marken mit Malteserkreuzen heraus, der etwa tausend Pfund wert war, und einige Blocks mit der Sydney Harbour Bridge, die pro Bogen etwa vierhundert Pfund einbringen konnten. Die übrigen legte sie wieder in den Umschlag und verstaute ihn sicher unter dem Pullover.
Wenige Minuten später hielt das Taxi vor Hawkes. Abby bezahlte und stieg aus, wobei sie die Marken unter dem Mantel vor dem Regen schützte. Ein Bus rumpelte vorbei, dann bemerkte sie flüchtig einen blauen Kleinwagen, in dem zwei Männer saßen. Peugeot oder Renault, tippte sie. Der Beifahrer sprach in sein Handy. Der Wagen hatte große Ähnlichkeit mit dem, der in der Nähe von Hegartys Haus geparkt hatte. Oder wurde sie allmählich paranoid?
Im Laden waren keine Kunden. Eine langhaarige Frau saß an einem Tisch und las die Tageszeitung. Das leicht heruntergekommene Flair gefiel ihr. Hier wurden keine großen Kostbarkeiten gehandelt und keine unangenehmen Fragen nach Herkunft und Besitzurkunde gestellt.
»Ich würde gern einige Briefmarken verkaufen.«
»Haben Sie sie dabei?«
Abby reichte der Frau die Marken, die sie aus der Hülle nahm und flüchtig betrachtete.
»Hübsch«, sagte sie in freundlichem Ton. »Die aus Sydney habe ich schon länger nicht gesehen. Ich muss kurz etwas prüfen. Darf ich sie mit nach hinten nehmen?«
»Natürlich.«
Die Frau ging durch eine offene Tür und setzte sich an einen Schreibtisch, über dem eine große Lupe angebracht war. Abby sah zu, wie sie die Briefmarken nacheinander sorgfältig untersuchte.
Sie warf einen Blick auf die Titelseite des Argus. Die Schlagzeile lautete:
Zweites Mordopfer –
Verbindung zu Opfer vom 11. September
Dann bemerkte sie die Fotos darunter. Und erstarrte.
Das kleinste zeigte eine schöne, aber hart wirkende Blondine Ende zwanzig, die lasziv in die Kamera schaute, als wollte sie den Fotografen verführen. Die Unterschrift lautete Joanna Wilson. Das größte Foto zeigte eine Frau Ende dreißig, attraktiv, mit welligem blonden Haar und offenem Lächeln, die allerdings ein bisschen billig aussah – Geld, aber kein Stil. Ihr Name lautete Lorraine Wilson.
Doch es war das Foto des Mannes in der Mitte, das Abby so gefangen nahm. Wie gebannt starrte sie auf sein Gesicht und las den Namen Ronald Wilson. Blickte wieder vom Gesicht zum Namen. Sie überflog den ersten Absatz des Artikels:
Die 42-jährige Frau, die vor fünf Wochen tot im Kofferraum eines Wagens bei Geelong nahe Melbourne aufgefunden wurde, ist als Lorraine Wilson, Witwe des Geschäftsmannes Ronald Wilson aus Brighton, identifiziert worden. Wilson war einer von 67 Briten, die beim Anschlag auf das World Trade Center am 11. September
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