So gut wie tot
Wagen kopfüber den Hang hinunterrutschen und wie über eine Skischanze in die Tiefe schießen.
Pewe machte alles noch schlimmer, weil er ständig versuchte, nach oben zu greifen.
»Hören Sie auf, Cassian!«, brüllte er. »Ganz still. Ich brauche Hilfe. Allein schaffe ich das nicht. Ich will den Wagen nicht verrücken.«
»Lassen Sie mich bitte nicht sterben, Roy!«, schrie er wieder und zappelte dabei wie ein Fisch an der Angel.
Noch ein Windstoß. Grace klammerte sich an die Äste, während die Luft seine Jacke aufblähte und wie ein Segel flattern ließ. Er wagte nicht, sich zu bewegen, bis die Bö abgeflaut war.
»Sie lassen mich doch nicht sterben, oder?«, flehte Pewe.
»Soll ich Ihnen mal was sagen, Cassian? Eigentlich geht es mir vor allem um mein verdammtes Auto.«
120
OKTOBER 2007 Grace trank Kaffee. Es war halb neun am Montagmorgen, und sie hatten soeben die fünfzehnte Teambesprechung der Operation Dingo begonnen. Ein Heftpflaster bedeckte die Platzwunde an der Stirn, die mit fünf Stichen genäht worden war. An seinen Handflächen klebten spezielle Blasenpflaster, und ihm tat jeder einzelne Knochen im Körper weh.
»Jemand hat gesagt, du würdest als Nächstes zum Everest aufbrechen«, zog ihn ein Kollege auf.
»Ja, und Detective Superintendent Pewe bewirbt sich für den Hochseilakt im Zirkus«, erwiderte Roy, wobei er sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte.
Tief im Inneren war er jedoch erschüttert, und es gab eigentlich nicht viel zu lachen. Sicher, Chad Skeggs saß in Untersuchungshaft. Abby Dawson und ihre Mutter waren gerettet, und wie durch ein Wunder hatte sich am Freitag niemand ernsthaft verletzt. Doch das alles war nur eine Seite der Geschichte. Sie untersuchten nach wie vor den Mord an zwei Frauen, und der Hauptverdächtige konnte sich überall aufhalten. Selbst wenn er noch in Australien war, hatte er sich inzwischen eine völlig neue Identität aufgebaut. Und Ronnie Wilson hatte ihnen bewiesen, dass eine neue Identität zu erschaffen überhaupt kein Problem für ihn war.
Es gab nur einen Hoffnungsschimmer.
»In Melbourne machen sie Fortschritte«, sagte Grace. »Ich habe heute Morgen mit Norman telefoniert. Sie haben eine Frau befragt, die angeblich eng mit Maggie Nelson befreundet war, die wir wiederum für Lorraine Wilson halten.«
»Wie sicher können wir sein, dass Ronnie und Lorraine Wilson sich in David und Margaret Nelson verwandelt haben?«, wollte Bella wissen.
»Die Polizei in Melbourne hat beim Straßenverkehrsamt, dem Finanzamt und der Einwanderungsbehörde nachgeforscht. Alles passt zusammen. Sie faxen mir einen Bericht zu, vermutlich heute Abend.«
Bella notierte sich etwas und nahm ein Malteser aus der Schachtel, die vor ihr auf dem Tisch stand.
Grace warf einen Blick auf seine Notizen. »Die Frau heißt Maxine Porter. Ihr Ex-Mann ist ein Gangster und steht zurzeit wegen Steuerhinterziehung und Geldwäsche vor Gericht. Er muss mit einer langen Haftstrafe rechnen. Vor etwas über einem Jahr, drei Monate vor seiner Festnahme, hat er sie wegen einer jüngeren Frau verlassen. Daher war sie nur zu gern bereit, in diesem Fall auszusagen. Nach ihren Angaben betrat David Nelson um die Weihnachtszeit 2001 die Szene. Chad Skeggs führte ihn in diesen illustren Freundeskreis ein, zu dem die Creme de la Creme der Unterwelt von Melbourne zu gehören scheint. Anscheinend nutzte er seine Chance und begann, den Leuten Briefmarken zu verkaufen.«
»Das ist doch süß«, bemerkte Glenn Branson. »In England gehen die Gangster mit Messern und Schusswaffen aufeinander los, und in Australien tauschen sie Briefmarken.«
Alle grinsten.
»Das sehe ich anders«, meinte Grace. »In den vergangenen zehn Jahren hat es in Melbourne siebenunddreißig Schießereien zwischen rivalisierenden Gangsterbanden gegeben. Die Stadt scheint auch eine sehr dunkle Seite zu haben.«
Genau wie Brighton and Hove, fügte er in Gedanken hinzu.
»Jedenfalls vertraute sich Lorraine – Verzeihung, Maggie Nelson – ihrer neuen besten Freundin an. Ihr Ehemann habe eine Affäre, und sie wisse nicht, was sie tun solle. Sie sei nicht glücklich in Australien, doch sie und ihr Mann hätten alle Brücken hinter sich abgebrochen und könnten beide nicht mehr nach Großbritannien zurück. Ich halte es für bezeichnend, dass sie in der Mehrzahl sprach.«
»Wann ist das gewesen, Roy?«, erkundigte sich Emma-Jane Boutwood.
»Irgendwann zwischen Juni 2004 und April 2005. Die Frauen haben sich anscheinend oft
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