So gut wie tot
unten abgelegt, weil er hoffte, sie würde durch die Kanalisation ins offene Meer geschwemmt. Die Abwässer werden in ziemlicher Entfernung vom Strand eingeleitet, dort wäre sie wohl kaum wieder aufgetaucht.«
Grace betrachtete das Skelett und konnte den Gedanken, dass es sich vielleicht um Sandy handelte, einfach nicht verdrängen.
»Vielleicht hat der Mörder nicht bedacht, dass der Kanal so trocken ist«, fuhr Theobald fort. »Er hat nicht damit gerechnet, dass die Leiche im Schlamm begraben und der Wasserstand so niedrig sein würde, dass sie nicht mehr frei gespült werden konnte. Möglicherweise wurde der Kanal auch einfach nicht mehr genutzt.«
Grace nickte und starrte auf den zitternden Faden.
»Es handelt sich um eine Teppichfaser, würde ich sagen. Ich kann mich natürlich irren, aber die Laboranalyse dürfte meine Ansicht bestätigen. Sie ist zu hart, um von einem Kleidungsstück oder einem Kissenbezug zu stammen.«
Joan Major nickte zustimmend.
»Wo haben Sie sie gefunden?«, wollte Grace wissen.
Der Rechtsmediziner deutete auf die rechte Hand des Skeletts, die noch halb im Schlamm begraben war. Die Finger lagen frei. Er deutete auf die Spitze des Mittelfingers. »Sehen Sie das? Ein künstlicher Fingernagel, aus einem dieser Nagelstudios.«
Grace spürte, wie es ihn kalt überlief. Sandy hatte an den Nägeln gekaut. Beim Fernsehen machte sie leise knackende Geräusche wie ein Hamster, was ihn wahnsinnig machte. Manchmal kaute sie sogar im Bett. Wenn er einschlafen wollte, knabberte sie vor sich hin, als sorgte sie sich um etwas, das sie ihm nicht anvertrauen wollte. Dann plötzlich wurde sie wütend auf sich selbst. Verlangte, er solle sie jedes Mal darauf aufmerksam machen, wenn sie an den Nägeln kaute, damit sie endlich damit aufhören konnte. Außerdem würde sie in ein Nagelstudio gehen und sich teure, künstliche Nägel machen lassen.
»Eine Kunststoffmischung, die aufgeklebt wurde. Die Nägel wurden nicht weggespült, obwohl die Haut darunter verweste«, erklärte Frazer Theobald. »Die Faser habe ich unter diesem hier gefunden. Möglicherweise hat der Angreifer sie über einen Teppich gezerrt, und sie hat sich mit den Nägeln festgekrallt. Das dürfte die wahrscheinlichste Erklärung sein. Wir haben wirklich Glück, dass die Faser nicht weggeschwemmt wurde.«
»Ach ja, Glück«, sagte Grace geistesabwesend. Seine Gedanken rasten dahin. Über einen Teppich gezerrt. Eine blaue Teppichfaser. Hellblau. Himmelblau.
Bei ihm zu Hause gab es einen hellblauen Teppich. Und zwar im Schlafzimmer. Im Schlafzimmer, das er mit Sandy geteilt hatte, bis sie verschwand.
Spurlos.
26
11. SEPTEMBER 2001 Ronnie war etwa eine Minute gelaufen, als der Tag zur Nacht wurde. Es war wie eine plötzliche Sonnenfinsternis. Er taumelte durch ein stickiges, stinkendes Nichts, Donner hallte in seinen Ohren, ein Donner, der aus dem Boden aufstieg.
Es war, als hätte jemand Milliarden Tonnen übel riechendes, bitter schmeckendes schwarz-graues Mehl vom Himmel geschüttet. Es brannte in seinen Augen, drang in seinen Mund. Er schluckte etwas davon und hustete es gleich wieder hoch. Schluckte noch mehr. Graue, geisterhafte Gestalten wirbelten an ihm vorbei. Er stieß sich den Zeh schmerzhaft an einem Hydranten, stolperte und fiel zu Boden. Der Boden bewegte sich unter ihm. Er vibrierte und bebte, als wäre ein riesiges Ungeheuer erwacht und bräche aus den Eingeweiden der Erde hervor.
Ich muss hier weg. Bloß weg von hier.
Jemand trat auf sein Bein und fiel auf ihn. Er hörte eine Frauenstimme, die schimpfte und sich entschuldigte, nahm einen flüchtigen Hauch von Parfüm war. Er kroch unter ihr hervor, versuchte aufzustehen, doch sofort prallte jemand von hinten gegen ihn und schleuderte ihn erneut zu Boden.
Ronnie hyperventilierte, rappelte sich auf und sah die Frau, die an einen grauen Schneemann erinnerte. Sie hielt ihre Schuhe umklammert und stand auf. Dann stieß ein riesiger, fetter Mann gegen ihn, dem die Haare zu Berge standen, schubste ihn wütend beiseite und verschwand im Nebel.
Wieder wurde er umgerissen. Steh auf. Steh auf. Steh auf.
Er erinnerte sich, gelesen zu haben, dass Menschen oft bei einer Panik zu Tode getrampelt wurden. Er stand auf, drehte sich um und sah weitere graue Gestalten aus der Düsternis auftauchen. Jemand schubste ihn zur Seite. Er suchte in dem Gewimmel von Beinen, Schuhen und nackten Füßen nach Aktentasche und Rollkoffer. Da waren sie. Er bückte sich, griff danach und wurde
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