So gut wie tot
Jahren praktisch nicht geregnet hatte. Einige spärliche Baumreihen standen verstreut wie Bartstoppeln, die der Rasierer übersehen hatte.
Es war Samstagmorgen, und zum ersten Mal seit zwei Tagen konnte MJ an etwas anderes als seine Ausbildung denken. In einem Monat stand die Prüfung in Börsenwesen an, die er bestehen musste, um eine feste Stelle bei der Macquarie Bank zu erhalten. Trotz der Trockenheit war der Frühling in diesem Jahr spät gekommen, und an diesem Wochenende hoffte er auf den ersten wirklich schönen Tag nach den langen trüben Wintermonaten. Er war fest entschlossen, das Beste daraus zu machen.
MJ ließ es langsam angehen. Er hatte schon sechs Strafpunkte und musste aufpassen, dass er sich an die Geschwindigkeitsbegrenzung hielt. Außerdem hatte er es nicht eilig. Er war wahnsinnig glücklich, mit dem Mädchen, das er liebte, im Auto zu sitzen, und genoss die Aussicht und das Gefühl, das ganze Wochenende vor sich zu haben.
Er erinnerte sich an einen Spruch, den er irgendwo einmal gelesen hatte. Glück heißt nicht, zu bekommen, was man will. Es heißt, zu wollen, was man hat.
Er zitierte es laut, und Lisa sagte, es sei wunderschön und sie sei ganz seiner Meinung. Dann küsste sie ihn. »Du sagst immer so schöne Sachen, MJ.« Er wurde rot.
Sie drückte einen Knopf, und die Whitlams hämmerten aus der sündhaft teuren Anlage, die er in den Wagen eingebaut hatte. Die Campingausrüstung und die Palette Bierdosen, die unter einer Plane auf der Ladefläche lagen, vibrierten im Takt. Genau wie sein Herz. Es war schön, hier zu sein, sich lebendig zu fühlen, die warme Luft im Gesicht zu haben, Lisas Parfüm zu riechen und ihre blonden Locken an seinem Arm zu spüren.
»Wo sind wir?«, wollte sie wissen. Eigentlich war es ihr egal, denn auch sie genoss die Fahrt. Eine nette Abwechslung zum Alltag, in dem sie als Pharmareferentin des Wyeth-Konzerns Arztpraxen besuchte und Medikamente gegen Hämophilie verkaufte. Sie genoss es, statt der üblichen Businesskostüme nur ein weißes Top und rosa Shorts zu tragen. Vor allem aber genoss sie die kostbare Zeit mit MJ.
»Wir sind fast da.«
Sie kamen an einem sechseckigen gelben Verkehrsschild vorbei, auf dem ein schwarzes Fahrrad zu sehen war, und hielten an einer Einmündung neben dem skelettartigen Stamm einer Radiata-Kiefer mit dicker Krone, die wie ein schlecht sitzendes Toupet aussah. Vor ihnen erhob sich ein kahler, steiler Hügel mit einzelnen Büschen, die aussahen wie angeklebt.
Lisa war Engländerin und lebte erst seit zwei Jahren in Australien. Vor einigen Monaten war sie von Perth nach Melbourne gezogen und kannte sich in der Gegend noch gar nicht aus. »Wann bist du zuletzt hier gewesen?«, erkundigte sie sich.
»Vor zehn Jahren. Früher habe ich mit meinen Eltern hier gezeltet. Es war unsere Lieblingsstelle. Du wirst begeistert sein. Yeah!«
Voller Elan trat er aufs Gas. Der Geländewagen schoss vorwärts, bog scharf nach links ab, der Auspuff knatterte laut.
Nach einigen Minuten kamen sie an einem Schild vorbei, das den Barwon River ankündigte. MJ fuhr langsamer und schaute nach rechts. Sie passierten ein weiteres Schild mit der Aufschrift STONEHAVEN AND POLLOCKS FORD.
Kurz darauf bremste er scharf und bog nach rechts auf einen sandigen Weg ab. »Hier müsste es sein!«
Sie rumpelten noch etwa fünfhundert Meter weiter. Rechts lag offenes Gelände, links Büsche und eine Böschung, die zum Fluss hinunterführte, der vom Weg aus nicht zu sehen war. Sie fuhren über eine Metallbrücke mit alten gemauerten Pfeilern. Der Weg neigte sich abrupt und stieg wieder an. Nach einigen Minuten gelangten sie auf eine Grasfläche, die von dichtem Gebüsch abgeschirmt wurde.
MJ hielt und zog die Handbremse an. Hinter ihnen schwebte eine Staubwolke in der Luft. »Willkommen im Paradies«, sagte er.
Sie küssten sich.
Kurz darauf stiegen sie aus, in eine warme Stille. Es roch nach Heu. Ein Laubenvogel machte ein pfeifendes Geräusch, dann war es wieder still. Unter ihnen wand sich der schimmernde Wasserlauf. In der Ferne waren im grellen Sonnenlicht kahle braune Hügel zu erkennen, auf denen nur vereinzelte Akazien und Eukalyptusbäume wuchsen. Die Stille war so intensiv, dass sie sich einen Moment lang wie die einzigen Menschen auf dem Planeten vorkamen.
»Mein Gott, ist das schön«, sagte Lisa.
Sie verscheuchte eine Fliege, die vor ihrem Gesicht summte. Dann noch eine.
»Die guten alten Fliegen«, sagte MJ. »Wir sind genau
Weitere Kostenlose Bücher