So habe ich es mir nicht vorgestellt
beim Mittagessen, als Pnina beschrieb, wie sie vor dem Schild »Pizza Sababa« gestanden hatte und Jo’ela ungeduldig die Lippen verzog, fuhr Hila sie an: »Verstehst du das denn nicht? Man zerbricht ihr die Welt, an die sie gewöhnt war.« Wenn Hila zu Besuch kam, hatte Pnina immer das Gefühl, es gebe einen Menschen, mit dem man reden konnte. Hila freute sich jedesmal, wenn sie sie traf, lächelte freundlich und fragte: »Wie geht es dir, Oma Pnina?« Pnina liebte Hilas Schönheit und ihre auffallende Kleidung. »Sie hat Stil, sie ist ein besonderer Mensch«, sagte sie oft zu ihrer Tochter, wenn sie allein in der Küche waren. Nur da äußerte sie ihr Lob, und sie verstand nie, warum sich Jo’elas Gesicht verdüsterte.
Als sie vom Markt zurückgekommen war und ihre Körbe in der Küche abgestellt hatte, setzte sie sich an den Tisch, stützte die runzligen Ellenbogen auf die gelbe Platte und starrte auf den Kalender, der an der Wand hing. Plötzlich fiel ihr auf, daß sie vergessen hatte weiterzublättern und er immer noch den März zeigte. Zum ersten Mal nahm sie auch Einzelheiten des Bildes wahr, ein Zimmer, in dem ein Mann an einem Schreibtisch saß, und eine verschwommene Gestalt auf einem Bett mit lilarosa karierter Decke. Erst jetzt sah sie, daß die wie ein Embryo zusammengekrümmte Gestalt in einem Morgenrock aus blauem Samt ein junger Mann mit weiblichen Gesichtszügen war, und nicht, wie sie immer angenommen hatte, eine junge Frau. Sie nahm den Kalender vom Nagel und blätterte weiter bis zum Juni, da war das Bild mit den beiden Liegestühlen, der eine rot und der andere blau. Dazwischen eine geschlossene braune Tür. Was hat dieses Bild nur, fragte sie sich, bloß zwei Liegestühle auf einem Betonboden und eine geschlossene Tür. Was ist schön daran? Jeder kann zwei Liegestühle und eine geschlossene Tür malen. Sie beugte sich über den Tisch und betrachtete das Bild aus der Nähe. Die Tür war wirklich geschlossen. Das bedeutete offenbar etwas, auch wenn sie nicht hätte sagen können, was. Wieder fühlte sie den Stich in der Brust.
Dann blickte sie auf die Zeiger der großen elektrischen Uhr, die sie von der Versicherungsgesellschaft zu ihrem sechzigsten Geburtstag bekommen hatte, und überlegte, ob sie in der Klinik anrufen sollte. Die Mittwoche waren Jo’elas leichte Tage, ohne Operationen. Doch als ihr Blick auf das in Zeitungspapier gewickelte und in eine Plastiktüte gesteckte Paket fiel, als sie tief die feuchte, heiße Luft eingeatmet hatte, stand sie auf – wegen der Hitze klebten ihre Oberschenkel an dem Plastiksitz fest und gaben ein saugendes Geräusch von sich, als sie sich lösten – und ging zur Schranktür. Während sie den Aluminiumtopf herausnahm – den sie nicht gegen einen anderen eintauschen wollte, trotz Jo’elas Warnungen wegen eines möglichen Zusammenhangs zwischen Aluminium und Alzheimer –, Karotten und Zwiebeln hineinschnitt und mit Wasser auffüllte, um die Soße für die Fische zu kochen, versuchte sie, die Unruhe, die sie ergriffen hatte, wieder abzuschütteln. Schon jetzt hatte sie ein vages Gefühl, daß ihr die Fische heute nicht gelingen würden. Irgend etwas läuft falsch, sagte sie sich zum wiederholten Mal, doch erst als sie die Fischteile, die sie für die Füllung benötigte, das getrocknete Weißbrot und die geschnittenen Zwiebeln vorbereitet hatte, rieb sie sich die brennenden Augen und rief Jo’ela bei der Arbeit an. Sie war auf alles vorbereitet, auf den Dialog am Anfang, wenn Jo’ela sie rügte, weil sie um diese Zeit in der Klinik anrief, auch auf den Spruch »Schade um das Geld, Mama« und auch auf ihre Antwort: »Um nichts ist es schade, das ist doch nur Geld, schade ist es nur um die Toten«, und sie wußte auch, daß Jo’ela dann lächeln würde. Während sie wählte, meinte sie schon, Jo’elas geschäftiges »Hallo« zu hören, das sie insgeheim immer wieder erstaunte, weil sie, fast ungläubig, ihre Tochter vor sich sah, in einem weißen Kittel, auf dessen Tasche in roten Buchstaben ihr Name gestickt war. Wer hätte das geglaubt, sagte sie sich immer wieder mit einem Kopfnicken, wer hätte das geglaubt? Die Schwestern, die Sekretärinnen, auch der konzentrierte Blick, den sie einmal bemerkt hatte, als Jo’ela sich zu einer Frau beugte und mit ihr sprach, ein Blick, der Pnina sehr bekannt vorkam, aber nicht von jetzt, von früher, ein Blick, der ihr für einen Moment wieder das Kind zurückgebracht hatte, all die Dinge, an die sie sich
Weitere Kostenlose Bücher