So habe ich es mir nicht vorgestellt
Jahren – eigentlich seit sie mit Ja’ir schwanger gewesen war, dachte Pnina nun – hatte Jo’ela angefangen, Weißbrot in die Fischsoße zu tauchen, und später hatte sie sogar die Füllung probiert. Pnina hatte es nie aufgegeben. Jedesmal, wenn sie die Fische auf den großen Teller legte und die leere Plastikdose sorgfältig säuberte, um sie beim nächsten Mal wieder zu benutzen, hatte sie ihrer Tochter einen bittenden Blick zugeworfen und leicht gereizt gesagt: »Vielleicht probierst du sie heute wenigstens mal? Heute sind sie mir ganz besonders gut gelungen.« Und Jo’ela hatte hartnäckig den Kopf von einer Seite zur anderen bewegt, wie sie es als Kind immer getan hatte.
Jo’ela hatte immer sehr schlecht gegessen. Als sie noch klein war, hatte Pnina ihr das Essen in den Mund gestopft und verhindert, daß sie es von einer Backe in die andere schob, während Chaim zornig zuschaute. Sie hatten alles versucht, alle möglichen Gerichte, sie hatten Geschichten erzählt, sie hatten gesungen, sie hatten ein hartes Ei für den Strand mitgenommen, eine saftige Tomate, die Jo’ela immer im Sand versteckte, aber das Kind hatte sich geweigert zu essen und war tatsächlich dünn und mager gewesen. Jedesmal, wenn Pnina die dünnen Ärmchen betrachtete, hatte sie das bittere Gefühl, versagt zu haben, und Scham und Ärger packten sie, wenn sie, vergeblich, die Grübchen an den spitzen Ellenbogen suchte. »Man kann ihre Rippen zählen«, hatte Chaim immer gesagt und eine besorgte Bemerkung über die grünliche Gesichtsfarbe des Mädchens gemacht. Schon seit ihrer Geburt war Jo’ela a grine schabe (Anm.: grine schabe (jidd.): grüner Frosch) gewesen. So hatte Pnina sie beim Füttern genannt, wenn sie das Essen im Mund behielt oder die ganze Mahlzeit wieder erbrach. Erst in der Pubertät fing Jo’ela an, besser zu essen, aber auch da ekelte sie sich eher vor gekochtem Essen und zog Brot und Käse vor. Oft seufzte Pnina dann und erinnerte sich an die Qualen, die sie ihr als Baby bereitet hatte. Einmal, in der schlechten Zeit, hatte Pnina mühsam einen großen Apfel für Jo’ela ergattert: die hatte einmal hineingebissen und ihn dann auf das Dach des Hauses geworfen, in Cholon, wo sie vor ihrem Umzug nach Ramat Gan gewohnt hatten, was die Nachbarin aus dem ersten Stock zu lauten Protesten wegen dieser Verschwendung veranlaßte. Pnina hatte diese Szene immer wieder beschrieben, und Jo’ela hatte sie sich verwirrt, mit gesenktem Kopf, angehört. Sie selbst erinnerte sich nicht mehr daran. »Wie sollst du dich auch daran erinnern«, sagte Pnina dann, »du warst drei, vielleicht noch nicht mal.« Jo’ela erinnerte sich allerdings sehr genau an die Geschichten, die über diesen Apfel erzählt wurden. Sie wußte auch nichts mehr von dem Besuch bei der bekannten Kinderärztin damals, kannte die Geschichte in allen Details aber aus den Berichten ihrer Mutter. »Als ich gar nicht mehr weiter wußte«, erzählte Pnina, »habe ich sie zur Ärztin gebracht, einer alten Russin, die sie sehr gründlich untersuchte und dann mit mir sprach.« Wenn Pnina davon anfing, lächelte sie regelmäßig, ein Lächeln, das sich langsam auf ihrem Gesicht ausbreitete und das man nur als spitzbübisch bezeichnen konnte. Solche seltenen Augenblicke der Selbstironie verliehen ihrem Antlitz einen anderen Ausdruck, der Jo’ela mehr Angst einjagte, als daß er sie freute. Nachdem Pnina gesagt hatte, das Mädchen esse nichts, untersuchte die Ärztin sie noch einmal lange und sagte dann: »Sie ist ganz gesund.« Pnina protestierte: »Aber sie ißt nichts.« An diesem Punkt der Geschichte angelangt, beschrieb Pnina erst einmal die äußere Erscheinung der Ärztin: eine Russin mit eingeschrumpftem Gesicht und scharfen Augen, groß und knochig, und wiederholte in dem genauen Tonfall die Frage, die sie gestellt hatte. »Gar nichts?« Pnina antwortete: »Gar nichts.« Dreimal, erzählte Pnina lachend, wiederholte sich dieser kurze Dialog, bis Pnina schließlich zugab: »Vielleicht einen Apfel am Tag.« An dieser Stelle atmete Pnina immer tief, bevor sie zur Pointe kam. »Und dann hat sie gesagt: Sehen Sie, auch von einem Apfel am Tag kann man leben.« Hier hielt Pnina inne und wartete auf die Reaktion. Jo’ela schwieg immer, Arnon räusperte sich, die Mädchen bettelten: »Los, erzähl noch eine Geschichte über Mama, als sie klein war«, und das Lächeln auf Pninas Gesicht erlosch so langsam, wie es gekommen war. Das Wort »Genuß« nahm Pnina erst in den
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