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So habe ich es mir nicht vorgestellt

So habe ich es mir nicht vorgestellt

Titel: So habe ich es mir nicht vorgestellt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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Morgen die fünf Gürtel und die zwei Armreifen fertig bekommen, die sie eigentlich an Chagits Boutique liefern mußte, dann würde sie etwas verdienen, um die Rechnung für die ambulante Behandlung vom Wochenende zu bezahlen, die von der Krankenkasse abgelehnt worden war.
    Sie ließ ihre Brust los und suchte mit zitternden Fingern, ob in einer Garnrolle eine Nadel steckte, dann nach der kleinen Schere mit der abgerundeten Spitze, mit der man einen Faden abschneiden konnte, ohne den Stoff zu beschädigen. Dabei tastete sie mit der Zunge ihren Gaumen nach etwas Auffallendem ab, und als sie das Gefühl hatte, hinter einem linken oberen Backenzahn eine Schwellung gefunden zu haben, nahm sie das Telefonbuch und suchte fieberhaft nach der Privatnummer von Doktor Groß, als wäre das die Rettung, fand sie aber nicht.
    Um halb sieben saß sie in dem lilafarbenen Sessel und rieb ihren großen Silberring am Bezug der Armlehne. Wenn sich herausstellen sollte, daß sie nichts am Zahnfleisch hatte, würde sie den Ring ins Meer werfen, sie würde extra zum Strand fahren, um ihn noch heute ins Meer zu werfen, und wenn nicht heute, so doch bestimmt morgen. Den Sessel hatte sie vor einigen Monaten selbst angestrichen, als Überraschung für ihren Vater, der von der Kur zurückkam und überhaupt nicht überrascht war, weil schon damals feststand, daß er diesen Sessel nicht in sein Zimmer im Altersheim mitnehmen würde, in dem ohnehin nicht genug Platz war für all seine Möbel, und überhaupt wollte er lieber neue.
    Sie war ratlos und wußte nicht, was sie mit sich anfangen sollte, bis Doktor Groß mit der Sprechstunde begann. Weil ihr einfiel, daß er in einer Mietwohnung lebte und das Telefon vielleicht gar nicht auf seinen Namen zugelassen war, rief sie in der Praxis an und hinterließ auf dem Anrufbeantworter eine Nachricht, daß sie ihn unbedingt heute morgen noch sehen müsse. Aber ein Anrufbeantworter war nicht zu vergleichen mit einem direkten Gespräch mit Doktor Groß selbst, der sie sicher nach einer Minute des Zuhörens sofort zu sich bestellt hätte, so wie damals, vor zwei Wochen. Er würde ihr blasses Gesicht mit seinen gelblichen Augen betrachten, in denen sie jedesmal, wenn sie auf dem Behandlungsstuhl saß, braune Pünktchen entdeckte, nicht aber, wenn sie ihm gegenüberstand; und mit seiner ruhigen, geduldigen Stimme, der es an Feuer und Autorität fehlte – aber genau dieses Fehlen war es, was ihn in ihren Augen professionell machte –, würde er ihr erklären, daß es keinen Grund zur Sorge gab und der Befund jetzt nicht anders sein konnte als vor zwei Wochen. Beim letzten Mal hatte er ihr, als die Sprechstundenhilfe das Zimmer verlassen hatte, mitfühlend gesagt, wie sehr er es bedauere, daß sie so litt, und als er ausrechnete, wieviel sie bezahlen mußte, hatte er gefragt, ob sie nicht an all das Gute denken könne, das es schließlich doch auch gab, und wie schade es wäre für eine so schöne Frau wie sie, in der Blüte ihrer Jahre, mit so gelungenen Töchtern, wenn sie das vergaß.
    Jo’ela anzurufen war sinnlos, nicht nur, weil es schon zehn nach sieben war – wie doch die Zeit verging, jetzt saß sie schon über eine halbe Stunde im Sessel, ohne etwas zu tun, aber manchmal war auch Nichtstun eine Tätigkeit, während Aktivität Flucht bedeuten konnte – und sie vielleicht schon das Haus verlassen hatte, sondern weil Jo’ela nichts verstand von Mund und Kiefern. Doch wenn sie es genau überlegte, war auch Doktor Groß kein Mund- und Kieferchirurg, deshalb hatte auch seine Versicherung, sie sei vollkommen gesund, keine besondere Bedeutung. Vielleicht war es doch besser, wieder zur Ambulanz zu fahren und bei dieser Gelegenheit gleich um eine Blutuntersuchung zu bitten, das war der sicherste Weg, um herauszufinden, ob sie krank war, das hatte nichts mit der Rechnung zu tun, die ihr die Klinik geschickt und die sie noch nicht bezahlt hatte, auch nichts mit dem ausdrücklichen Versprechen, das sie Jo’ela gegeben hatte, diese Woche nicht mehr hinzugehen, nachdem sie sich beim letzten Mal lächerlich gemacht habe. Warum durfte sie nicht einfach hinfahren, ohne daß jemand böse auf sie wurde und ihr Vorwürfe machte? Wenn sie ruhig und ohne Angst war, konnten es die anderen doch wohl ebenfalls sein.
    Die Wochenenden waren besonders schlimm, weil man dann die passenden Ärzte nicht anrufen konnte. Dann mußte man extra zur Ambulanz fahren und Ärzte in grünen Kitteln um Hilfe anflehen, Ärzte, die einem

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