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So habe ich es mir nicht vorgestellt

So habe ich es mir nicht vorgestellt

Titel: So habe ich es mir nicht vorgestellt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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Spitze ihres kleinen Fingers fuhr sie über das rosafarbene Zahnfleisch und betrachtete prüfend den Fingernagel, ob ein Zeichen für eine Blutung zu erkennen war. Nichts war zu sehen, auch nicht der kleinste Tropfen, trotzdem brauchte man nicht gleich an die Einhaltung des Versprechens zu denken. Wenn sie es sich genau überlegte, hatte sie es ja nicht wirklich versprochen, sie hatte die Bedingungen noch nicht endgültig formuliert.
    Im Spiegel sah sie, daß ein Knopf an ihrem Hemd fehlte. Man durfte sich nicht gehenlassen. Sie mußte ihn sofort annähen. Unter dem Wasserhahn, im Waschbecken, waren gelbe Rostflecken zu sehen, deshalb mußte sie den Knopf annähen. Das war zwar kein Blut, aber ganz genau weiß man das ja nie, sagte sie zu ihrem Spiegelbild. Und vielleicht bestand das erste Anzeichen ja auch aus etwas anderem als Blut.
    Da ihr Mund so trocken war, fiel es ihr schwer, ins Waschbecken zu spucken, aber als sie es geschafft hatte, entdeckte sie etwas, das man vielleicht als Rosa bezeichnen konnte, eine Farbe, die durchaus auf eine geheime Blutung hinweisen konnte. Die beiden Wörter »geheime Blutung« reichten, um alles zwingend und dringend zu machen. Geheime Blutungen und die dunklen Ränder unter ihren Augen. Nur wenn man das untere Lid herabzog, sah man den hellen Rosaton unterhalb des Augapfels, ein Beweis für Blutarmut, was untrüglich auf eine starke Anämie oder eine innere Blutung hinwies.
    Während sie Nadel und Faden suchte, überlegte sie, daß sie den obersten Knopf abschneiden könnte, den sie ohnehin nie benutzte, und statt des fehlenden annähen. Der Nähkasten stand noch immer auf dem Bücherschrank im Wohnzimmer, wie damals, als ihre Mutter noch gelebt hatte, und sie mußte sich auf die Zehenspitzen stellen, um ihn herunterzuholen. Als sie den Deckel öffnete und die drei treppenförmigen Schubladen herausklappte – keine einzige Nadel war zu sehen –, strich sie sich mit der anderen Hand über die linke Brust, wie Jo’ela es ihr gezeigt hatte, mit kreisenden Bewegungen von der Achselhöhle zur Brustmitte. Es war zwar besser, sich im Liegen zu untersuchen, aber im Stehen ging es auch, das konnte einem ja keiner verbieten. In dem Monat, seit ihr Vater ins Altersheim umgesiedelt war, das auch »die Stätte des goldenen Lebensabschnitts« genannt wurde, waren so viele Dinge passiert, daß ihr ganz schwindlig wurde, wenn sie daran dachte.
    Er hatte nichts dagegen gehabt, daß sie einstweilen, bis eine andere Lösung gefunden war, in der Wohnung wohnte. Er hatte überhaupt sehr gleichgültig reagiert, besorgniserregend gleichgültig, als sie ihm erzählt hatte, daß sie von zu Hause wegging. Auch Rubi hatte diesmal ihre Mitteilung, sich von ihm zu trennen, nicht ernst genommen, so als habe er mit ihrem Vater abgesprochen, sie solle sich austoben, diese Periode hinter sich bringen, den Anfall durchstehen – wie Rubi es einmal genannt hatte, während er mit einem Holzlöffel in der Erdbeermarmelade rührte – und dann in aller Ruhe nach Hause zurückkehren. Sie hatten beide nicht erwartet, daß sie auch nur einen Monat durchhalten würde, und vielleicht war das der Grund dafür, daß sie durchhielt und auch nicht aufgeben würde. Die Tatsache, daß ihre Töchter nicht zu Hause waren, unterstützte sie dabei. Wenn Rubi wollte, daß sie zurückkam, wenn er vor lauter Sehnsucht den Verstand verlor, wenn er bettelte – dann würde sie es sich vielleicht überlegen, doch jetzt dachte sie nicht daran, zu der Routine zurückzukehren, die Rubi so liebte, und das langsame Sterben eines verheirateten Paares zu erleben. Die Tatsache, daß sie über vierzig war, was Rubi nie zu erwähnen vergaß, hatte keinerlei Bedeutung. Auch eine Frau über vierzig hatte Rechte. Ehe war kein Schicksal, das man hinnehmen mußte. Nichts war wirklich Schicksal, außer den Krebszellen und dem körperlichen Verfall.
    Wenn sie wüßte, daß sie gesund wäre, hätte diese Einsamkeit vielleicht etwas Schönes sein können. Wenn sie wüßte, daß sie gesund wäre, hätte sie den ganzen Vormittag dem Einfassen der grünen Steine widmen können, die sie gestern herausgebrochen hatte, und den Schnallen der Ledergürtel, die ein Schuster in Rechawja nach ihren Wünschen geschnitten hatte. Aber der Gedanke an eine Krebsgeschwulst am Gaumen oder am Kiefer ließ sie nicht los. Vielleicht wäre es besser, etwas zu tun, sich abzulenken, vielleicht wäre es gut, sich auf die Gürtelschnallen zu konzentrieren. Sie könnte an diesem

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