So habe ich es mir nicht vorgestellt
nicht langweilig?« fragte Jo’ela manchmal, wenn sie nach dem Schabbatessen abends in der Küche standen, Jo’ela das Geschirr in die Spülmaschine räumte, während Pnina, die Spülmaschinen grundsätzlich mißtraute, noch die Töpfe abwusch. »Nein, nie«, antwortete sie dann und erklärte: »Ich habe einen Fernseher, ich habe eine Zeitung, und ich habe immer viel zu tun.« Einmal hatte Jo’ela zögernd gefragt: »Möchtest du nicht Leute kennenlernen? Soll ich dich vielleicht mit einem Mann bekannt machen?« Pnina hatte sie entsetzt angeschaut. »Wozu? Damit ich für ihn waschen und kochen muß? Was ist schlecht an meinem Leben?« Dann hatte sie geseufzt und wiederholt, was sie in den letzten Jahren schon so oft gesagt hatte: »Einen Mann wie deinen Vater gibt es nicht noch einmal, wir waren jung, als wir uns kennenlernten, und jetzt sind alle alt.« Jo’ela hatte sie erstaunt angeschaut. »Willst du etwa einen jungen?« hatte sie gefragt. Pnina hatte eines ihrer seltenen Lächeln gelächelt und gesagt: »Warum nicht?« Ihre Tochter war rot geworden und hatte sich schnell wieder daran gemacht, die schwarze Marmorplatte zu putzen, von der Pnina sofort gesagt hatte, sie würden sie bestimmt bald auswechseln, weil sie nicht praktisch sei.
Pnina zog die Pikeedecke über sich, die sie als Schutz gegen die Mücken benutzte, und lauschte dösend den Spätnachrichten. Wie jeden Abend seufzte sie, als sie das Hauskleid auszog und in das Nachthemd schlüpfte, das ihr die Kinder zu Pessach geschenkt hatten. Sie hatte nicht vorgehabt, es zu benutzen, aber Ne’ama hatte sie mit ihren braunen Augen ernst angeschaut und gesagt: »Heb es ja nicht im Schrank für mich auf, Oma, wir haben es zu dritt für dich ausgesucht.« Und jedesmal, wenn Pnina nun den dünnen, hellblauen Stoff sah, sah sie zugleich die ernsten braunen Augen Ne’amas vor sich, die von allen seit ihrer Geburt als »Engel« bezeichnet wurde und schon als Zweijährige einen so ernsthaften, verantwortungsbewußten Blick gehabt hatte.
Sie konnte nicht einschlafen. Sie überlegte sogar, ob sie Hila anrufen sollte, vielleicht wüßte die ja, was mit Jo’ela los war, wagte es aber wegen der späten Stunde nicht. Sie traute sich auch nicht, eine der Schlaftabletten zu nehmen, die ihr der Kassenarzt verschrieben hatte. Sie wollte am nächsten Morgen wach sein, wenn Jo’ela anrief. So warf sie sich im Bett hin und her, stand am Schluß auf, wanderte in der Wohnung herum und lauschte den Geräuschen, die von draußen hereindrangen, Geräuschen von Autos, von Menschen, die mitten in der Nacht auf der Straße herumliefen. Sie stellte das kleine Radio an, das neben Chaims Bettseite stand, und als sie sich dann hinlegte, zum Radio gewandt, und die Hand ausstreckte, spürte sie für einen Moment Chaims Körper, sie hörte den Sprecher etwas über die Hochzeitsrituale brasilianischer Indianer erzählen, und schließlich holte sie aus Jo’elas Zimmer die polnische Enzyklopädie über die gesunde Familie, in der sie manchmal blätterte, suchte das Stichwort »Geschwulst« und las zum soundsovielten Mal alles, was über Brustkrebs darin stand. Erst gegen Morgen, als es draußen bereits hell wurde, schlief sie ein.
9. Hila oder: Der Prozeß findet statt
Als Hila aufwachte, war es drei Uhr morgens. Obwohl es ihr nicht gelang, noch einmal einzuschlafen, blieb sie bis gegen sechs Uhr liegen, nahm sich alles mögliche vor, versuchte, irgendwelche schönen Vorstellungen festzuhalten, die aber immer wieder davonflogen wie Drachenschnüre bei starkem Wind, bis sie schließlich, noch vor sechs Uhr, im Badezimmer stand, den Bauch ans Waschbecken gepreßt, das Gesicht so dicht wie möglich an dem kleinen Spiegel mit dem schwarzen Rahmen. Mit dem Finger zog sie die Oberlippe hoch und berührte ihr Zahnfleisch. Erst oben, dann unten. Sie fletschte die Zähne und riß den Mund auf. Wenn nichts zu sehen war, gelobte sie sich auch diesmal, würde sie darauf verzichten, Alex zu treffen, wenigstens einmal.
Als sie ihre Fingerspitzen betrachtete, die zwar feucht waren, aber keine Spur von Blut zeigten, entschied sie, daß das eigentlich noch nichts bedeute und sie daher das Gelöbnis nicht zu halten brauche. Nur wenn wirklich keine Blutung auftrat, wollte sie auf das Treffen verzichten. Und falls sich herausstellen sollte, daß sie ganz gesund war, versprach sie sich, würde sie vielleicht den Kontakt mit ihm für einige Zeit aufgeben, möglicherweise sogar für immer.
Mit der
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