So habe ich es mir nicht vorgestellt
immer den viermal zusammengefalteten Zettel umklammerte, auf dem in exakter Dosierung die Kräuter angegeben waren, die der Apotheker zusammenmischen würde, und das große Blatt, auf dem ausführliche Anweisungen zur Zubereitung für den »Trank« standen, dämpften die kühle Reserviertheit, mit der sie schon länger der Frau zugenickt hatte, wenn sie sie im Treppenhaus traf, sogar wenn sie das neue Baby trug, auf dessen süßes Gesicht sie im Vorbeigehen einen Blick geworfen hatte, schnell, damit die Mutter nicht merkte, wie groß ihr Interesse eigentlich war.
Die beiden waren ihre neuen Nachbarn in dem Haus, in dem sich auch die Wohnung ihres Vaters befand. Und vor einigen Monaten, als Hila ihn mit der Begründung aufsuchte, sie brauche ein altes Kleid (sie brauchte eine Ausrede, weil sie das Gefühl hatte, ihre Besuche seien ihm unangenehm, vielleicht weil sie seine Ruhe störten, die Ordnung seines Alltags, die Übersetzungsarbeit, in die er ganz versunken war, sein Schläfchen im Sessel, vor dem Fernsehapparat), hatte sie plötzlich vom Wohnzimmer aus schwere Schritte gehört, das dumpfe Scharren großer Möbelstücke, die herumgezogen wurden, und das Schlagen von Türen, und die Geräusche waren alle aus der Wohnung gegenüber gekommen, die nach dem Auszug der Liwkins wochenlang leer gestanden hatte. Trotz des Einspruchs ihres Vaters, der murmelte: »Ich habe geglaubt, wir wären Rosenstein endlich los«, und damit Frau Rosenstein meinte, die im Parterre gewohnt hatte, die bei jedem Geräusch aus der Wohnung geschossen war und sich, seiner Meinung nach, überhaupt verhalten hatte wie eine Concierge in einem Roman von Balzac (Wochen nach ihrem Tod hatte ihr Vater auf der Schwelle des Hauses noch immer seine Schritte beschleunigt und war auf Zehenspitzen an ihrer Wohnungstür vorbeigeschlichen, um ihr nicht in die Hände zu fallen), öffnete Hila die Eingangstür, schob neugierig den Kopf hinaus und sah die hellen Möbelkisten und die verschnürten Pakete, aber nur die Möbelpacker standen vor der Tür gegenüber, die neuen Mieter sah sie an jenem Abend noch nicht. Es war der Abend, an dem sie sich nur für einen Moment auf dem Sofa ausgestreckt hatte, vor dem Videogerät, und vermutlich eingeschlafen war, denn am nächsten Morgen lag sie immer noch da, mit der karierten Schottendecke zugedeckt. »Ich habe dich zugedeckelt«, sagte ihr Vater mit einem Lächeln, in der Sprache, die sie als Kind benutzt hatte, und plötzlich strömte ins Zimmer, was sie schon seit Monaten bei ihren wiederholten Besuchen gesucht hatte, bei denen ihr überhaupt nicht klar gewesen war, wie er sich über sie gefreut hatte. Diesmal ließ sie sich nicht irreführen. Der Anblick seines gebeugten Rückens, als er sich nun schlurfend von ihr entfernte, in den Hausschuhen, die sie haßte, und ohne ihr Gesicht berührt zu haben – gab es das überhaupt irgendwo auf der Welt, daß alte Väter ihre erwachsenen Töchter umarmten? –, verschwand auch wieder das Bild, das vor ein paar Augenblicken aus der Erinnerung aufgestiegen war: sie selbst als kleines Mädchen, das ihm die Hände aus dem Bettchen entgegenstreckt, seine Freude, sein tiefes, geheimnisvolles Lachen, sein offen gezeigtes Erstaunen über die Wörter, die sie erfand, die Art, wie er diese Wörter immer wieder verwendete. Doch später hatte er nichts dagegen, daß sie ihn auf seinem Morgenspaziergang begleitete, und dort im Hof, zwischen den alten Zypressen, standen riesige Holzkisten, eine Art Container, und ihr Vater sagte, das seien Lifte, solche hätten die Einwanderer aus Osteuropa in den fünfziger Jahren mitgebracht. Vielleicht seien die neuen Nachbarn Einwanderer aus Rußland, wie die Liwkins, die Besitzer der Wohnung, die ursprünglich aus Belorußland gekommen seien, meinte er und spielte mit einem schmatzenden Geräusch an seinem Gebiß herum, ein Geräusch, das sie ganz nervös machte, weil es sie daran erinnerte, wie alt er geworden war und daß es ihm egal war, ob jemand sich von ihm abgestoßen fühlte. Dieses Herumgefummel an seinen Zähnen war in ihren Augen ein weiterer Beweis dafür, wie gleichgültig er ihr gegenüber war, der ganzen Welt gegenüber, ein Beweis seiner gewollten Isolierung, seines kompletten Mangels an Interesse, was ihr Leben betraf, worin sie einen völligen Verzicht auf Liebe erblickte. Dieser Verzicht stand im Widerspruch zu der Begeisterung, mit der er Opernplatten sammelte, zu der Hingabe, mit der er zur Ouvertüre einer Rossini-Oper
Weitere Kostenlose Bücher