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So habe ich es mir nicht vorgestellt

So habe ich es mir nicht vorgestellt

Titel: So habe ich es mir nicht vorgestellt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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in nüchternen Augenblicken, überlegte Hila ganz kühl, was es eigentlich war, das ihren Vater dazu brachte, weiterzuleben und sogar über die Epen Homers zu sprechen, wo doch klar war, daß es keinen Menschen mehr gab, der ihm wirklich etwas bedeutete und in dessen Gesellschaft er sich gerne aufhielt. Immer wieder fragte sie sich, was ihm dieser Verzicht auf Liebe brachte, wie er die Zeit vom Abend zum Morgen erlebte, wenn über allem die Farbe des Verzichts lag, und wie er Tag um Tag weiterexistierte, jenseits von Kummer, Willen und Leid, frei von Haß und Wut, das heißt von Liebe und Hoffnung und Glauben, und sich mit mürrischen Beschwerden über sein körperliches Befinden zufriedengab. Manchmal stiegen Bilder in ihr auf, aus ihrer Kindheit, und sie glaubte sich zu erinnern, daß er die Hände vor das Gesicht geschlagen hatte und seine Schultern zuckten. Das bedeutete, daß er nicht immer so gewesen war, es bedeutete, daß er, je älter er wurde, um so mehr verzichtete, es bedeutete, daß Alter gleichzusetzen war mit Verzicht. Und dann stellte sich die schreckliche Frage, welche Motive der Mensch dann noch hatte, pünktlich zu essen und für die kleinen Dinge des Alltags zu sorgen. Was gab ihm jetzt Kraft, was brachte ihn dazu, mit einer solchen Hartnäckigkeit an diesem Leben festzuhalten, und was trieb Jo’ela an, vor allem in der letzten Zeit, wo klar wurde, daß sie sich nicht mehr so fest daran klammerte, daß alle Dinge so waren, wie sie sein sollten, und ihr auch dieser professionelle Typ nicht mehr soviel anhaben konnte wie vorher. Natürlich würde Jo’ela sagen, sie liebe Arnon, die Kinder, ihre Mutter und auch sie, Hila, aber manchmal merkte man deutlich, daß für Jo’ela Liebe etwas war, das es einfach gab, etwas Konstantes, das sich aus den Umständen ergab, demonstriert durch das Aufrechterhalten von Beziehungen, die nie ernsthaft in Frage gestellt wurden, obwohl sie manchmal, wenn sie Ja’ir anschaute, für einen Moment einen vollkommen weichen Blick hatte und in ihren Kämpfen mit Ja’ara etwas lag, was Zorn sehr nahekam.
    Als ihr Vater an jenem Abend über das Altersheim gesprochen hatte, kurz bevor an die Tür geklopft wurde, hätte sie fast gefragt: Wofür lebst du, und warum willst du weiterleben, obwohl du genausogut wie ich weißt, daß dies das Ende ist, daß du zum Beispiel nie mehr eine Frau voller Begehren umarmen wirst und daß dich nie mehr jemand aus aller Kraft umarmen wird. Als es klopfte und ihr Vater sie anblickte und seltsam aufgeregt fragte, wer das wohl sein mochte, hatte sie die Tür aufgerissen und den dünnen Mann vor sich stehen sehen, der die Hände rang und sich entschuldigte. Auch wenn sie ihn vorher nur einmal von weitem gesehen hatte, als er mit dem Fahrrad fuhr, das normalerweise im Flur stand, neben den Mülltüten, die bewiesen, daß sie dort hinter der Tür hausten wie ängstliche Hasen, obwohl ihr Vater über die Mülltüten neben der Tür murrte, über den Kohlgeruch abends, das Klopfen und die lauten Schritte – sie werden Ende des Jahres ausziehen, wenn sie Geld bekommen, hatte er hoffnungsvoll gesagt –, wußte sie sofort, wer er war. In einem überraschend klaren, rollenden, weichen Hebräisch erklärte er, seine Frau habe heute ein Kind bekommen. »Wir haben es nicht gewußt«, rief Hila, »wir haben nichts gehört«, und dann schwieg sie verlegen, weil er vielleicht glauben könnte, sie habe erwartet, daß die Frau im Treppenhaus schrie oder etwas Ähnliches, und bat ihn herein. Erstaunlich war auch, wie weich das Gesicht ihres Vaters wurde, als er dem Mann gratulierte und sich erkundigte, ob es ein Junge oder ein Mädchen sei. Der Mann zog seine braunen Hausschuhe aus – die gleichen hatte ihr Vater früher auch gehabt, bevor sie von dem ständigen Geschlurfe endgültig genug gehabt und ihm die grauen, geschlossenen Hausschuhe gebracht hatte, die er dann an der Ferse niedertrat, so daß er auch in ihnen schlurfte – und ließ sie auf der Schwelle stehen, bevor er zögernd, auf grauen Strümpfen, das große Wohnzimmer betrat, sich umschaute und bemerkte, er sei nur gekommen, um sich nach einer Sozialstation in der Nähe zu erkundigen, denn im Krankenhaus habe man ihm erklärt, er müsse eine Schwester bestellen. Er wirkte hilflos, obwohl es sich anhörte, als sei alles geregelt. »Setzen Sie sich doch, bitte«, sagte ihr Vater und ging in die Küche. Als er zurückkam, hatte er zwei Gläser in der Hand und die Flasche mit dem französischen

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