So habe ich es mir nicht vorgestellt
ständigen Hoffnung auf ein wirkliches Gespräch zwischen ihnen, das sich immer auf banale Alltagsthemen beschränkte, was ihr schwerfiel zu verstehen, denn er war ein gebildeter, empfindsamer und sensibler Mensch, mit dem sie eigentlich über alles hätte sprechen können, doch neben seiner Sensibilität gab es noch – wie immer – eine gewisse Distanz, die sie manchmal als Schwäche auffaßte, dann wieder als Stärke, und diese Verschlossenheit – die wenigen Freunde, die er gehabt hatte, waren gestorben. Er hatte nach dem Tod ihrer Mutter nicht wieder geheiratet, trotz enger Beziehungen zu anderen Frauen, vor allem zu Gita, nach deren Tod er sich noch mehr abgesondert hatte. Letztlich hatte ihre Hoffnung auf ein wirkliches Gespräch dazu geführt, daß sich ein regelrechter Kult entwickelte, der darin bestand, daß sie den Kühlschrank saubermachte, verschimmelte Nahrungsmittel wegwarf, seinen Kleiderschrank regelmäßig kontrollierte, seine Hemden mit den abgewetzten Kragen, die sie manchmal – trotz seiner Proteste, vor allem in Form von wegwerfenden Handbewegungen – auch bügelte. Wenn sie zögernd versuchte, seine Einsamkeit anzusprechen, unterbrach er sie mit einem ungeduldigen: »So ist das nun mal« oder »Das ist der Lauf der Welt«, und einmal, als er von Katzenellenbogens Beerdigung zurückgekommen war, hatte er gesagt: »Aus der Erde sind wir gekommen, zu ihr kehren wir zurück, das wird keinem Menschen erspart.« Außer ihr hatte er keine Verwandten, nur noch eine Schwägerin, die Frau seines verstorbenen älteren Bruders, doch auch über sie sprach er distanziert, wenn nicht gar spöttisch. Manchmal hatte Hila das Gefühl, er sei lieber mit Rubi zusammen, mit dem er bei den wenigen Malen, die er ihre Einladungen angenommen und sie zu Hause besucht hatte, in ein schweigend geführtes Schachspiel versunken war.
Trotzdem beantwortete er all ihre tastenden Erkundigungen nach seinem Tagesablauf, nach seinem Leben konkret, und statt seine Gefühle bezüglich der zwanzig Jahre, die er nun schon pensioniert war, vor ihr auszubreiten, erzählte er, daß er Sanskrit lerne und speziell für Rentner eingerichtete Kurse über Archäologie besuche und daß er das Bedürfnis verspüre, das Gilgamesch-Epos neu zu übersetzen, und manchmal zeigte er ihr auch Entwürfe, Gedichte, die er aus dem Deutschen übersetzt hatte, vor allem seine Übersetzungsversuche – immer nur Versuche, er war nie zufrieden mit dem Ergebnis – der Elegien Rilkes. Doch immer riß er ihr die gelben Blätter, auf die er tippte, aus der Hand, während sie sie noch betrachtete und zu verstehen suchte, wobei er murmelte, schließlich sei T. S. Eliot sein Leben lang Bankangestellter gewesen, deshalb gebe es keinen Grund, warum nicht ein Ingenieur, der bei der Stadt angestellt gewesen war, ein Gedicht ordentlich übersetzen könne.
In jener Nacht, als der Mann der Nachbarin an die Tür geklopft hatte, stellte sie sich bereits vor, wie es wäre, allein in der Wohnung zu leben, selbst die Wände neu zu streichen, und wie sie freundschaftliche Beziehungen zu der Familie gegenüber unterhalten würde, freundschaftliche, aber nicht zu intime, nicht zu weit gehende, sondern wie eine erwachsene Frau, die Grenzen einzuhalten weiß. Wie er so in der Tür stand, verlegen und verwirrt, gefiel ihr der russische Nachbar vom ersten Augenblick an. Schon da fühlte sie, daß sie, wenn ihr guter Wille und ihre guten Absichten zum Erfolg führten, die Ben-Jehuda-Straße wieder entlanggehen konnte, ohne daß sich ihr das Herz zusammenzog bei der Erinnerung an den alten Russen, der dort in einem zerbrochenen Baß gebrüllt hatte, die Hand auf der breiten Brust gespreizt. Es hatte sie nicht einmal erleichtert, wenn sie ein Geldstück in die viereckige Blechbüchse warf, die er neben sich stehen hatte. Immer wieder hatte sie in diese Büchse geschaut und den Zehnschekelschein gesehen, der ausgebreitet darin lag, doch auch wenn sie schnell an ihm vorbeilief und die vorher herausgesuchten Münzen in die Büchse fallen ließ, so daß sie auf dem Blechboden klirrten, war dies eine Bestätigung, daß es ihn wirklich gab. Deshalb ging sie immer schnell an ihm vorbei und drehte den Kopf zur Seite. Hätte sie ihrem Vater von diesen Gedankengängen erzählt, hätte er sicher erwähnt, daß die Äthiopier noch bedürftiger waren, auch wenn sie nicht in der Ben-Jehuda auftauchten, und sich dann über die Hungrigen und Bedürftigen der ganzen Welt ausgelassen. Manchmal,
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