So habe ich es mir nicht vorgestellt
ohne alles genau zu verstehen?«
Jo’ela zuckte mit den Schultern. »Gut, daß er es wenigstens nicht im Fall des Mädchens gewagt hat«, murmelte sie. »Gut, daß er nicht mit irgendwelchen Phantastereien angefangen hat, das spricht für ihn, aber dieses ganze Theater mit den Fotos leuchtet mir nicht ein, er kann höchstens etwas an einem anwesenden Menschen entdecken, und auch das ist ein Wunder, das einer Erklärung bedarf.«
»Aber du selbst«, widersprach Hila, »du merkst doch auch alle möglichen Dinge, das hast du mir selbst erzählt … Wie hast du es bei dem Mädchen gewußt?«
»Ich habe sie berührt«, betonte Jo’ela, »ich habe sie untersucht.«
»Du hast es vorher gewußt«, erinnerte sie Hila. »Und was ist mit den anderen Fällen, wo du etwas vorausgesehen hast?«
»Ich behaupte ja nicht, daß es keine Intuition gibt«, sagte Jo’ela mürrisch. »Aber er tut, als wisse er etwas wirklich.«
»Vielleicht«, sagte Hila plötzlich über der großen Schüssel Salat, die Ja’ara und Ja’ir ihr hingestellt hatten, damit sie ihn anmachte, »gibt es eine innere Sprache, eine wortlose, mit deren Hilfe wir anderen etwas mitteilen.«
»Was meinst du damit?« fragte Jo’ela und polierte die Gabel, bevor sie sie links neben den Teller legte.
»Mach nicht zuviel Zitrone dran«, sagte Ja’ir warnend zu Hila. »Papa mag nicht zuviel Zitrone.«
»Aber Papa ist doch nicht da«, rief Ja’ara und verdrehte die Augen, als sei soviel Dummheit kaum zu ertragen.
»Das habe ich vergessen«, sagte Ja’ir.
»Nein, das hast du nicht«, sagte Ja’ara wütend. »Du willst dich doch bloß wichtig machen.«
»Das ist nicht wahr!« schrie Ja’ir. »Mama, sag’s ihr!«
Jo’ela streichelte ihm über den Arm und deutete auf die Schublade. »Es fehlen noch zwei Gabeln«, sagte sie.
Er kämpfte einen Moment mit sich, ob er sich ablenken lassen wollte, und entschied sich für die beiden fehlenden Gabeln.
»Du wirst lachen«, sagte Hila, »aber Geschöpfe unterhalten sich ohne Worte miteinander, sie geben Botschaften weiter. Zum Beispiel Mütter mit ihren Babys. Wie können sie sonst wissen, wo sie ihre Hand hinlegen müssen, wenn es weh tut?«
»Im allgemeinen wissen sie es nicht, ganz im Gegensatz zum Mythos«, sagte Jo’ela und legte die Gabeln, die Ja’ir ihr hinhielt, auf den Tisch.
»Sie wissen es häufiger, als sie es nicht wissen, und woher weißt du etwas, woher weiß ich etwas, ohne zu wissen, daß wir es wissen, weder die Mutter noch das Kind wissen, was sie bewegt, und woher hast du plötzlich gewußt, daß du dem Mädchen Blut abnehmen mußt?«
»Was hat das damit zu tun?« fragte Jo’ela.
»Ich will Brot abschneiden«, verlangte Ja’ir.
Ja’ara zog den runden Brotlaib zu sich. »Die Mama schneidet es ab«, fuhr sie ihn an. »Sie kann es am besten.«
»Ich glaube, wer zu dem Heiler kommt – so wie ich, nicht wie du«, beeilte Hila sich zu versichern, »setzt bei sich und dem Heiler einen atavistischen Apparat in Bewegung, ein unbewußtes Gespräch. So weckt er in ihm das Wissen und überträgt ihm die Aufgabe, so wie das Mädchen dir die Aufgabe übertragen hat.«
»Was für ein Mädchen? Was für ein Heiler?« fragte Ja’ara. »Von was redet ihr überhaupt?«
»Na gut, eine Mutter«, sagte Hila. »Eine Mutter und ihr Kind, ein ewiges Band, Instinkt und so weiter, aber hast du dich schon mal gefragt, wer einen Vater wirklich zu einem Vater macht?«
»Wer denn?« fragte Ja’ara.
13. Triebe an den Fußsohlen
Rabbiner Perlschtajn war sehr höflich, sogar freundlich. Aufmerksam hörte er sich an, was Jo’ela zu sagen hatte. Hätte er gewußt, daß sie von zu Hause aus anrief, von ihrem Schlafzimmer, ihrem Bett aus, hätte er sich vorstellen können, daß der Bericht mit dem Ergebnis der Blutuntersuchung nur eine Ausrede war, hätte er sich bestimmt anders verhalten. Natürlich machte ihn auch die beiläufig gestellte Frage nach dem Ort, an den man das Mädchen geschickt hatte, nicht mißtrauisch. Um glaubwürdig zu sein, brachte sie trotzdem verhaltenes Erstaunen darüber zum Ausdruck – statt die Sache ganz zu ignorieren –, daß man sie nicht zur Untersuchung ins Krankenhaus gebracht, sondern einfach weggeschickt hatte. Sie wunderte sich selbst über den Zorn, den seine rechtfertigenden, wohlüberlegten Erklärungen und das Gerede darüber, daß es besser sei, abzuwarten und zu überlegen und einen allgemeinen Plan zugunsten des Mädchens zu entwerfen, bei ihr
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