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So habe ich es mir nicht vorgestellt

So habe ich es mir nicht vorgestellt

Titel: So habe ich es mir nicht vorgestellt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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Anschluß nicht zu verlieren. Sirenengeheul war zu hören, von weitem leuchtete Blaulicht. »Ein Unfall oder ein Terrorakt? Was meinen Sie?« fragte er, zog wieder die Handbremse an, streckte den Arm hoch und drückte ein paarmal auf einen runden Knopf, rückte den Metallring, der ihn umgab, zurecht. Dann war ein langes Summen zu hören, das Brummen eines alten Lautsprechers und weiche Klavierklänge. Er drehte schnell an einem anderen Knopf, bis zum Nachrichtensender der Armee. Es kam aber nichts über einen Unfall oder einen Terroranschlag. Er betrachtete das Gerät mit träumerischer Hingabe, und auch als er ihr das Gesicht zuwandte, mit demselben konzentrierten Ausdruck, fühlte sie, daß er noch zuhörte; schließlich machte er das Radio aus.
    »Mögen Sie keine Musik?« fragte sie.
    »Warum? Wie kommen Sie darauf?«
    »Weil das schön war, das Klavierspiel vorher.«
    »Es war sogar besonders schön. Eben deshalb.«
    »Mögen Sie keine schönen Dinge?«
    »Doch, sonst sogar sehr. Aber jetzt unterhalten wir uns. Jetzt möchte ich mit Ihnen sprechen.«
    »Das hat doch nichts miteinander zu tun«, sagte sie schnell, bevor er merkte, daß sie rot wurde.
    Er drehte sich um, lehnte sich mit dem Rücken an die Tür und blickte ihr ungeniert in die Augen. Sie sah rasch aus dem Fenster, weil ein schnelles, unbeherrschtes Zwinkern ihre Angst vor der Wärme in seinem Blick verriet, vor seiner Bereitschaft für etwas Unbekanntes, das ihm vertraut zu sein schien, etwas, was sie an Hilas Erzählungen erinnerte. Mit trockener, fast verzerrter Stimme fragte sie: »Was haben Sie eigentlich von ihm gewollt?«
    »Eine Erlaubnis zum Fotografieren.«
    »Auf der Station?«
    »Ich bin Fotograf.«
    »Bei einer Zeitung?«
    »Nein, nicht bei einer Zeitung. Im Gegenteil. Beim Film.«
    »Aha, Film.« Sie blickte hinunter zu den Filmstreifen zu ihren Füßen. Auch auf dem Rücksitz lagen Zelluloidstreifen mit perforierten Rändern und ein hellbrauner Karton, aus dem eine Filmrolle hervorlugte. »Sie machen wirklich Filme?«
    Sie erschrak über den staunenden Ton ihrer Stimme, doch er lachte. »Dokumentarfilme, nur Dokumentarfilme. Das ist mein Spleen. Und auch meine Arbeit.«
    »Sie sind also Dokumentarfilmer? Wirklich?«
    »Was ist daran so Besonderes?«
    Beide lächelten.
    Eine so kurze Zeit mit einem vollkommen fremden Menschen, ein Moment der Unachtsamkeit hatten ausgereicht, um so etwas wie eine private Sprache entstehen zu lassen. Sie hatte sich selbst als Hebamme ausgegeben. Diese Hand, die über die Gummidichtung des Fensters strich. Was würde sie tun, wenn er ebenso über ihren Arm streichelte? Es war unmöglich, hier im Auto von einer Situation zu einer anderen zu wechseln. Das wäre grotesk. Was war denn so seltsam an diesem Gedanken? Hila würde diese Frage bestimmt stellen. Und sie hörte auch schon ihre eigene wütende Antwort: Bist du verrückt geworden? Aber er war ihr gekommen, dieser Gedanke. Sogar bei den Christen waren Gedanken keine Sünde. Und es war eine Tatsache, daß sie diese Hand betrachtete und überlegte, wie es wäre, wenn er ihren Arm berührte. Und ebenso war es eine Tatsache, daß ihr die Erbsen vom Mittagessen wieder hochkamen und sie noch einmal das Krachen des Blechs hörte. Sie wußte nicht, was sie getan hätte, wenn er wirklich seine Hand ausgestreckt hätte.
    »Ist alles in Ordnung mit Ihnen?« fragte er.
    »Ja, vollkommen, warum?«
    »Weil Sie wieder so blaß sind.«
    »Das geht gleich vorbei.« Sie atmete tief. Wie kommt es, daß auf der ganzen Welt alles fließt? Die Beziehungen geraten aus dem Gleichgewicht, Realitäten zerbrechen. Wie hätte man diese Situation zum Beispiel im Film dargestellt? Zwei Menschen, die getrennt voneinander sitzen, und seine Hände auf dem Lenkrad. Wie überschreiten Menschen eigentlich die Grenzen? Was würde beispielsweise passieren, wenn sie die Welle von Übelkeit nicht verbergen könnte, die Angst, die sie plötzlich befiel?
    »Kann man von Dokumentarfilmen überhaupt leben?«
    »Sie meinen finanziell?«
    »Ja, auch.«
    »Sehe ich so aus, als würde ich nicht leben?« Und wieder dieser offene Blick, der nichts verbarg und sich nicht verstellte. Er war es, der die Frage so bedeutungsschwer machte, so absichtsvoll. Sie wischte die Hände an ihrem schwarzen Rock ab, zog ihn herunter und legte ein Bein über das andere.
    »Fürs Fernsehen?«
    »Was kann ich anderes tun, wenn in den Kinos keine Dokumentarfilme gezeigt werden?«
    Sie wußte nicht einmal seinen Namen.

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