So habe ich es mir nicht vorgestellt
Sie etwas, und atmen Sie tief ein. Erst tief einatmen.«
Sie gehorchte, und er legte die Hand wieder auf das Lenkrad. »Manchmal ist es wunderbar, wenn einem der Tag versaut wird«, erklärte er. »So trifft man sich. Das ist nicht so schlimm, wir können uns unterhalten.«
»Ich liebe die Routine«, widersprach sie.
»Das liegt nur an der Angst.«
Sie lehnte sich zurück, schloß die Augen und machte sie sofort wieder auf, weil sie Panik in sich aufsteigen fühlte. Er betrachtete sie ohne Scham, mit sichtbarer Neugierde und Freude. Sie zog am Saum ihres engen, schwarzen Rocks, den sie immer anzog, wenn sie Frauen aus den frommen Vierteln erwartete. »Ich schlafe nicht«, meinte sie. »Ich schlafe nie ein, ohne es zu wollen.«
»Wirklich seltsam«, sagte er.
»Was ist seltsam?«
»Die Dinge, die uns angst machen, die Momente, in denen wir die Selbstbeherrschung verlieren. Vorhin waren Sie vollkommen in Ordnung.«
»Das hängt bloß von den Umständen ab, das hat keine Bedeutung. Es liegt an der Müdigkeit und dem Druck und solchen Dingen.«
»Was halten Sie also von der Sache mit der Proportion? Wir waren bei den Proportionen.«
»Ich weiß, daß man auf die richtigen Proportionen achten muß, und ausgerechnet das macht es noch schwerer. Hoffentlich glauben Sie mir …« – eigentlich konnte es ihr doch egal sein, was er glaubte – »… daß ich sonst nicht so bin. Ich kenne den Unterschied zwischen einer Katastrophe und einer Belanglosigkeit ziemlich genau.«
»Weil Sie Krankenschwester sind?« fragte er amüsiert.
Sie wollte schon den Kopf schütteln, wollte schon etwas über stereotype Gedanken sagen, gegen automatische Hypothesen protestieren, doch plötzlich spürte sie eine Art Trotz, und sie meinte, Ja’aras entschiedene Stimme zu hören, in der Küche, am Eßtisch, vor dem Rechenheft mit den Multiplikationsaufgaben. Sieben war sie damals gewesen, als sie mit großer Sicherheit behauptet hatte: »Jungen können besser rechnen als Mädchen.« Sie hatte ihre Tochter betrachtet, die mit den Übungen kämpfte, und war nicht auf die Bitten um Hilfe eingegangen (»Sag’s mir, bitte, sag mir, wieviel sechs mal sieben ist«), sondern hatte jedesmal wiederholt, was notwendig war: »Du weißt es selbst. Lös die Aufgabe und zeig sie mir dann.« Sie war erschrocken gewesen über den Ausruf ihrer Tochter. »Wieso sollen sie besser rechnen können? Wer hat dir so einen Blödsinn erzählt?« Ja’ara hatte den Radiergummi am Bleistiftende abgeleckt und einlenkend den Kopf zur Seite gelegt. »Gut, vielleicht können sie es nicht besser«, hatte sie gesagt, »aber es ist besser, wenn Mädchen es schlechter können.« Jo’ela wollte wissen, was sie damit meinte, doch Ja’ara hatte es ihr nicht erklärt, sondern nur mit den Schultern gezuckt und gesagt: »Es ist eben besser.«
Jo’ela nickte.
»Was für eine Schwester sind Sie?«
»Hebamme.«
Er staunte. »Wirklich?«
»Ja, wirklich.« Und schnell fügte sie hinzu: »Warum wundern Sie sich? Was ist so seltsam daran?«
Er kratzte sich verwirrt an der Wange. »Nein, das ist nichts Überraschendes, überhaupt nicht. Ein wunderbarer Beruf.«
»So sagt man.«
»Und wie ist es in Wirklichkeit?«
»Manchmal sind auch Geburten nur Arbeit.«
»Was soll das heißen? Das Wort Arbeit ist ein Synonym für … sagen wir mal: Grau? Routine?«
»Ich mag nicht, wenn man alles in phantastischen Farben malt.«
»Jetzt glaube ich überhaupt, daß es schicksalhaft war.«
»Was war schicksalhaft?«
»Ihr kleiner Unfall.«
»In welchem Sinn schicksalhaft?«
»Weil ich, genau bevor Sie in mich reingefahren sind, bevor ich ins Auto gestiegen bin, versucht habe, mit Ihrem Professor zu sprechen, aber er hatte keine Zeit. Erst war er in einer Sitzung, dann bei einer Behandlung. Und man hat mir gesagt, es lohne sich nicht zu warten, weil er hinterher im Operationssaal erwartet würde.«
Im Flur hatte sie ihn nicht gesehen. Dieses Gesicht, lang, aber nicht schmal, mit betonten Wangenknochen unter der glatten, geraden Topffrisur, dieses jungenhafte Gesicht war ihr im Flur, vor dem Zimmer, nicht begegnet, es wäre ihr aufgefallen.
»Ich hatte keinen Termin ausgemacht, deshalb kann ich mich nicht beklagen.«
»Woher wußten Sie, daß ich Schwester bin?«
Er lächelte. »Nun, Sie sehen sehr müde aus, und wer arbeitet in einer Klinik schwer? Schwestern oder Ärzte.«
Hinter ihnen wurde gehupt. Die Autoschlange bewegte sich langsam vorwärts, er beeilte sich, den
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